Wohnen und Zuwanderung: Das Recht auf ein Dach über dem Kopf

Nr. 38 –

Für ihre «10-Millionen-Schweiz»-Initiative argumentiert die SVP mit knappen Wohnungen und teuren Mieten. Doch was sind wirklich die Treiber der Verdrängung? Ein Blick bis in die Berge.

Diesen Artikel hören (10:08)
-15
+15
-15
/
+15

Gleich neben den Redaktionsräumen der WOZ an der Zürcher Hardturmstrasse entsteht eine neue Überbauung. Über einem Tramdepot sind zwei Wohntürme in die Höhe gewachsen. Die ersten Mieter:innen ziehen bereits in die 193 dringend benötigten Wohnungen ein. Eigentümerin ist die Stadt, die Wohnungen unterliegen der Kostenmiete. Zigtausende interessierten sich dafür, ein Zufallsgenerator entschied, wer sich überhaupt bewerben durfte.

Die Wohnungsnot in Zürich scheint durch nichts zu lindern zu sein. Das schafft untypische Allianzen. Kürzlich diskutierte das Stadtparlament auch mit Blick auf das Harddepot eine Forderung der SVP, dass künftig nur noch ein Recht auf städtische Wohnungen haben soll, wer seit mindestens zwei Jahren in der Stadt wohnt. «Ein Dach über dem Kopf zu haben, sollte kein Privileg, sondern ein Recht sein», postulierte SVP-Mann Reto Brüesch. Die SP fiel auf die vertraut klingende Rhetorik rein und unterstützte seinen Vorstoss.

Doch sollte, wer die Wohnungsnot bekämpfen will, wirklich jenen das Leben noch schwerer machen, die eine Wohnung suchen? Die SVP jedenfalls hat das Thema Wohnungsnot für sich entdeckt. Die Initiative zur «10-Millionen-Schweiz» argumentiert zentral mit steigenden Mieten infolge der Zuwanderung. Wie verfänglich das ist, zeigt eine Sotomo-Umfrage vom Sommer: Die Wohnungsnot und die Angst vor Verdrängung sind der Hauptgrund, warum Befragte der Initiative zustimmen wollen. Die konstante mediale Aufregung über «Dichtestress» und «Wachstumsschmerz» hat den Boden dafür bereitet.

Getarnt als Gentrifizierungskritik

Besonders Zürich dient als Experimentierfeld für rechte Wohn- und Sozialpolitik. Unlängst hat die kantonale SVP dort eine Initiative lanciert, die Vermieter:innen dazu verpflichten will, Schweizer Bewerber:innen zu bevorzugen. Ob das überhaupt verfassungskonform wäre, ist stark bestritten. Doch der Ton in der Debatte ist gesetzt. Er passt zu einem Diskurs, der aus Zürich in die ganze Schweiz ausstrahlt und in dem Kritik an Verdrängung schnell einen migrationsfeindlichen Einschlag erhält.

Der 39-jährige Stadtforscher Jacob Geuder hält die ganze Debatte für verdreht. «Es gibt eine Kritik an der Zuwanderung, die als Gentrifizierungskritik daherkommt und auf jene zielt, die neu ins Quartier kommen und angeblich den Schweizer:innen die Wohnungen wegschnappen, während sie teuren Cappuccino trinken», sagt Geuder. Doch die Polemik verdecke, was die tatsächlichen Treiber der Verdrängung seien: «Wir müssen uns die Eigentumsverhältnisse anschauen.»

Geuder tut genau das beim Basler Verein Stadt für Alle, der ehrenamtlich die Basler Quartiere analysiert: Wem haben die Häuser früher gehört, wem gehören sie heute, und wer vertreibt dort Bewohner:innen, um mehr Rendite zu erzielen? Aus den Antworten gestalten sie Plakate, die sie in alle Haushalte im Quartier verteilen.

Besonders entfesselt verlief die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten im Kleinbasler Matthäusquartier. Die grossen Player auf dem Immobilienmarkt kauften auf, was im dicht bebauten, stark migrantisch geprägten Arbeiter:innenquartier zum Verkauf stand. Gehörte 1960 noch jede dritte Wohnung den Menschen, die darin wohnten, beträgt dieser Wert aktuell noch acht Prozent. Über zwei Drittel aller Wohnungen befinden sich heute im Besitz von privaten oder institutionellen Investor:innen. Letztere, also Pensionskassen, Banken, Versicherungen, Vermögensverwalter und Immobilienunternehmen, sind laut Stadt für Alle für vier von fünf Wohnungskündigungen im Quartier verantwortlich. Und solche gab es zuhauf: Hunderten Bewohner:innen in gesamthaft 544 Wohnungen wurde im Matthäus zwischen 2014 und 2024 wegen Sanierungen oder Neubauprojekten gekündigt. «Das passiert, wenn Wohnen Marktmechanismen unterliegt. Darüber müssen wir reden und nicht nur über die Leute, die zuziehen», fordert Geuder.

Wer Verdrängung verhindern will, muss bei jenen ansetzen, die daraus ein Geschäft machen – das glaubt auch Antonia vom Zürcher Mietenplenum, die als Wohnaktivistin nur mit Vornamen genannt werden will. Beim Mietenplenum treffen sich von Verdrängung Betroffene regelmässig zum Austausch. Antonia besucht auch Strategietagungen der Immobilienwirtschaft: «Dort lernte ich, dass Investoren für die zehn Prozent Topverdienenden bauen. Doch die teuren Wohnungen sind nicht einfach zu vermieten. Es wird ein grosser Marketingaufwand betrieben. Zum Beispiel vermietet die Branche teure Wohnungen strategisch an eingewanderte Hochverdienende, weil diese die lokalen Gegebenheiten nicht kennen und somit eher diese überhöhten Preise bezahlen.»

Doch das Geschäft beginne bereits davor. Um ein Haus leer zu bekommen, bieten etwa Investoren einem Teil der Mieter:innen manchmal Ersatzwohnungen aus dem eigenen Portfolio an – doppelt so teuer und weit weg. Dies sei ein direkter Profit mit Verdrängung. Für die Übergangszeit bis zum Abriss würden teils Asylsuchende und Student:innen als Zwischenmietende gesucht – «jedoch mit sehr prekären Verträgen und mietrechtlich total dem Vermieter ausgeliefert», betont Antonia. «Bei jedem Schritt profitiert der Investor finanziell von internationaler wie von Binnenmigration, und zwar von freiwilliger wie von unfreiwilliger.»

Die Betroffenen dieser Entwicklung gelangen immer wieder ans Mietenplenum. Antonia sagt: «Verdrängt werden Personen, die in der Grundversorgung arbeiten: Pflege, ÖV, Detailhandel, Reinigung. Verdrängt werden auch Alleinerziehende, Alte, Menschen mit wenig Geld – aber auch Handwerksbetriebe und Kultur.»

Gestützt werden ihre Beobachtungen von einer aktuellen Studie der ETH Zürich, die im Auftrag des Bundesamts für Wohnungswesen die Bautätigkeiten in den fünf grössten Schweizer Städten mit Agglomerationen und die Verdrängung dort untersuchte. Eine Erkenntnis: Wer in einen Ersatzneubau zieht, verdient viel mehr als die verdrängten Mieter:innen, in Basel etwa im Median doppelt so viel. Zwar rücken oft Menschen mit B-Bewilligung in teuer sanierte Wohnungen nach – aber es sind auch Menschen mit B-Bewilligung, die verhältnismässig viel häufiger verdrängt werden als Schweizer:innen. Besonders oft verlieren ihre Wohnung laut der Studie Geflüchtete. Fiona Kauer, Mitautorin der Studie, sagt: «Die Einkommenssituation ist ausschlaggebend dafür, wer verdrängt wird.»

Doch die Forscher:innen haben noch etwas festgestellt: Die regionalen Dynamiken unterscheiden sich stark. So wurde in Zürich und Agglomeration zwischen 2015 und 2020 jede:r 100. Bewohner:in aus der Wohnung rausgekündigt, weil diese entweder abgerissen oder totalsaniert wurde. In Genf dagegen war in der gleichen Zeitspanne eine:r von 1250 Bewohner:innen betroffen. Diese Unterschiede lassen sich durchaus erklären: Während sich in Zürich Investoren weitgehend ungebremst austoben können, begrenzen in Genf Wohnschutzgesetze Abbrüche und teure Sanierungen. Ähnliche Vorschriften gibt es mittlerweile auch in Basel.

Die innere Verdichtung laufe in Genf auch sonst anders ab als in Zürich, sagt Kauer. So würden in Zürich oft Mehrfamilienhäuser abgerissen und neu gebaut, während die Verdichtung in Genf vorwiegend auf Baulandreserven und in Gebieten mit vielen Villen passiere; auch Aufstockungen würden in Genf viel stärker gefördert. Ein weiteres Problem in Zürich und Bern: Wird ein Gebäude abgerissen und neu gebaut, hat es im Schnitt zwar deutlich mehr Wohnfläche – aber nur minimal mehr Wohnungen.

«Es braucht wirksame Eingriffe»

Es gäbe also eine Palette von erprobten regulatorischen Möglichkeiten, um die Wohnungsnot in den Städten zu bekämpfen. Doch vermutlich werden für den Ausgang der Initiative eh weniger die Befindlichkeiten in Zürich ausschlaggebend sein als jene etwa im Berner Oberland – wobei auch dort eklatante Wohnungsnot herrscht. Thomas Egger, Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete, sagt: «Die Situation hat sich in den letzten Monaten im ganzen Alpenraum nochmals verschärft, sie ist unhaltbar geworden.» Längst nicht nur in den touristischen Hauptorten gebe es kaum mehr freie Wohnungen. Zum einen habe seit der Coronapandemie eine Rückwanderung in die Berge stattgefunden, sagt Egger. «Zum andern ist auch die Nachfrage nach Zweitwohnungen stark gestiegen, der Markt ist leer geräumt.» Zunehmend würden deshalb auch sogenannt altrechtliche Erstwohnungen in Zweitwohnungen umgewandelt, eine legale Umgehung der Zweitwohnungsinitiative. «Einheimische werden durch Zweitwohnungsbesitzer verdrängt, wobei andere Einheimische profitieren», so Egger.

Der frühere Walliser CSP-Nationalrat klingt wie ein Linker: «Die Gemeinden können die Wohnungspolitik nicht mehr einfach dem Markt überlassen!» Er fordert wirksame Eingriffe und den Abbau von Vorurteilen. Gemeinden und Kantone müssten das Thema dringend angehen und eine Wohnraumstrategie entwickeln. Darauf abgestützt, könnten Massnahmen wie die Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus und der Erlass von Erstwohnungsanteilsplänen ergriffen werden. Einige Gemeinden rund um Interlaken haben zudem strenge Airbnb-Verbote erlassen.