Angehörigenpflege: Wer den Markt kontrolliert, gewinnt

Nr. 47 –

Die Kritik am System der Angehörigenpflege nimmt zu. Im Fokus: Firmen wie Pflegewegweiser aus St. Gallen. Doch die Missbrauchsdebatte verdeckt, worum es wirklich geht.

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Ursula Schwarzentruber hilft ihrem Partner beim Anziehen der Unterschenkel-Orthese
Seit Ursula Schwarzentruber bei der Spitex für die Pflege ihres Partners angestellt ist, wird ihr das Anziehen der Unterschenkel-Orthese vergütet. 

Vom einen Moment auf den anderen war das Leben von Ursula Schwarzentruber aus Wilen in Obwalden ein anderes. Im März 2022 erlitt ihr Lebenspartner eine Aortendissektion, eine schwere Beschädigung der Hauptblutbahn. Es folgte eine komplizierte Notoperation, während der es zu Infarkten im Hirn kam. Seither ist ihr Partner halbseitig gelähmt.

Nach einem längeren Spitalaufenthalt und anschliessender Reha kehrte er im September 2022 nach Hause zurück. Schwarzentruber wollte ihm ermöglichen, wieder in seinem vertrauten Umfeld zu leben. «Er war gerade erst fünfzig geworden, das ist kein Alter, in dem man ins Heim geht», sagt sie. Also organisierte sie eine Spitexbetreuung für den Morgen, den Rest der Pflege übernahm sie selber. Da empfahl ihr die Spitex, sich doch dafür anstellen zu lassen.

Seit einem Bundesgerichtsurteil von 2019 können sich alle von einer Spitexbetreiberin anstellen lassen und die Grundpflege ihrer Angehörigen, aber auch von Nachbar:innen übernehmen. Dafür müssen sie als Mindestausbildung einen Pflegehilfekurs absolvieren. Eine fallführende Pflegefachperson leitet sie an und steht in regelmässigem Kontakt. Die Spitex schliesst dazu eine Leistungsvereinbarung mit der Krankenkasse ab, die regelt, was diese vergütet.

Bei Ursula Schwarzentruber ist das etwa: Hilfe beim An- und Auskleiden, Hilfsmittel anbringen, Unterstützung bei der Körperpflege, Lagerung im Bett, Richten und Verabreichen der Medikamente. Dafür erhält sie 35 Franken pro Pflegestunde ausbezahlt. Insgesamt entspreche die Vergütung einem Zwanzig-Prozent-Pensum, sagt sie. Und sie erhält fachliche Unterstützung. Einmal im Monat kommt eine ausgebildete Pflegefachperson bei ihr zu Hause vorbei. Bei Fragen kann sie auch anrufen. «Ich bin sehr zufrieden», sagt Schwarzentruber, die beruflich als Sozialpädagogin tätig ist. Ihnen als Paar bringe das Modell mehr Unabhängigkeit und Lebensqualität. Etwa weil die ordentliche Spitex den Transfer ins Bett schon um halb neun Uhr abends machen würde. Doch der grösste Vorteil: Sie wird für eine Arbeit entlöhnt, die sie ansonsten gratis verrichten würde.

Günstiger als das Heim

In der Schweiz sind 600 000 Menschen in der gleichen Situation wie Ursula Schwarzentruber, zwei Drittel davon sind Frauen: Sie pflegen Angehörige zu Hause. Ihre Pflegearbeit hat laut Pro Infirmis einen Wert von 3,7 Milliarden Franken pro Jahr. Arbeit, die noch immer weitgehend unvergütet bleibt – wobei sich eine schnell wachsende Zahl von Angehörigen dafür anstellen und entlöhnen lässt.

Eine erfreuliche Entwicklung. Denn um die alternde Bevölkerung zu versorgen, fehlen in der Schweiz Zehntausende Fachkräfte. Und die Angehörigenpflege kommt die Gesellschaft um ein Vielfaches günstiger als ein Pflegeheim. Doch vor allem sichert sie endlich jene finanziell und sozial ab, die wegen der Pflege ganz oder teilweise auf Erwerbsarbeit verzichten müssen. Das gilt etwa auch für eine Mutter, die ihren Sohn mit Cerebralparese versorgt, statt ihn in eine Institution zu geben.

Doch in den Kantonen und beim Bund tobt eine heftige Debatte über die Angehörigenpflege. Weil sich bis anhin unbezahlt Pflegende anstellen lassen, entstehen in rasantem Wachstum neue Gesundheitskosten. 2024 wurden laut dem Krankenkassenverband Santésuisse schon hundert Millionen Franken über die Kassen abgerechnet.

Die Kosten verteilen sich auf Dutzende Firmen. Doch vor allem ein Unternehmen prägt das negative Bild der Branche: die Firma Pflegewegweiser aus St. Gallen, ein Start-up des deutschen Unternehmens Entyre, in das die Schweizer Krankenkassen CSS und Helsana investiert haben. En­tyre rühmt sich mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz im Pflegegeschäft. Doch eigentlich erscheint das Geschäftsmodell profaner: Mit aggressiven Werbemethoden will Pflegewegweiser möglichst schnell wachsen, um über Skaleneffekte Kosten zu sparen. Wie viele Angehörige dort aktuell angestellt sind, will die Firma nicht sagen, Branchenkenner:innen gehen von 5000 aus. Der WOZ wurde ein Fall geschildert, in dem Anwerber:innen des Unternehmens vor einer Coop-Filiale Blankoarbeitsverträge an Senior:innen verteilt haben sollen. Pflegewegweiser lässt über die Kommunikationsagentur Farner mitteilen, dass Mitarbeiter:innen an Infoständen Aufklärungsarbeit leisten und «auf Wunsch auch Musterarbeitsverträge zur Einsicht zur Verfügung stellen» würden.

Doch neue Angehörige sind nur dann lukrativ, wenn sie möglichst viel Pflege leisten wollen. Denn für jede geleistete Pflegestunde erhält eine Spitex 52.60 Franken von der Krankenkasse plus einen Restkostenbeitrag der Wohngemeinde, der bis zu 40 Franken beträgt. Die Löhne der pflegenden Angehörigen liegen aber meist bei bloss 35 Franken. Mit der Differenz werden die fallführenden Pflegefachkräfte und alle anderen in der Spitex anfallenden Hintergrundkosten – von Büromiete über Buchhaltung bis zu den Löhnen der Geschäftsleitung – bezahlt, zum Teil auch der obligatorische Pflegehilfekurs. Je mehr Angehörige eine Organisation anstellt und je mehr Stunden die einzelnen Angehörigen arbeiten, desto schneller sind die Hintergrundkosten amortisiert und desto höher ist der Profit.

Einer der lautesten Kritiker der aktuellen Entwicklung ist GLP-Nationalrat Patrick Hässig, selber Pflegefachmann. «Es ist absolut unverhältnismässig, was aktuell abgeht», warnt er. Firmen würden Regulierungslücken ausnutzen, um riesige Profite einzufahren, und so Gemeinden und Krankenkassen, aber auch herkömmliche Spitexorganisationen stark in Bedrängnis bringen.

«Niemand sonst im Gesundheitswesen macht solche Profite», kritisiert Hässig. Ein Problem sei, dass die Agenturen die Zahl der Pflegestunden, die Angehörige abrechnen könnten, maximal ausreizen würden. Eine neue Erhebung der Zürcher Gesundheitskonferenz unterfüttert diesen Vorwurf: Demnach machten private Agenturen pro Patient:in bis zu zehn Mal mehr Stunden in der Grundpflege geltend als öffentliche Spitexorganisationen. Wie aussagekräftig dieser Vergleich ist, bleibt aber angesichts unterschiedlicher Profile bei den Patient:innen umstritten.

Hochbetagte Angestellte

Doch eigentlich ist klar geregelt, was abgerechnet werden darf: die Grundpflege, etwa Hilfe beim Aufstehen und Anziehen, Körperhygiene, Essen eingeben oder bettlägerige Personen regelmässig drehen. Wie viel Zeit für die Handreichungen veranschlagt wird, liegt jedoch im Ermessen der fallführenden Fachperson. Und es kommt mitunter zu Absurditäten: Der WOZ wurde ein Fall zugetragen, in dem ein Mann und eine Frau beide angestellt waren, weil sie sich gegenseitig beim Duschen halfen. Oder das Beispiel einer 92-jährigen Arbeitnehmerin.

Gabriel Bürgisser, Geschäftsleiter der gemeinnützigen Spitex Nord Ost Aargau, sagt dazu: «Für mich stellt sich hier die Frage: Ist es ethisch korrekt, wenn man auch schon lange Pensionierte anstellt?» Finanziell bereits abgesicherte Menschen für eine Pflegeaufgabe zu bezahlen, sieht er kritisch. «Klare Vorgaben wären wichtig, zum Beispiel: Nur wer sein Arbeitspensum reduzieren muss, soll für diese Aufgabe angestellt werden können.»

(Hoch-)Betagte anzustellen, löst auch bei Katharina Grigolia von der Privatspitex Prica Stirnrunzeln aus. «Wer bereits stark eingeschränkt ist, etwa auf einen Rollator angewiesen, kann die Anforderungen einer Anstellung meist nicht erfüllen – auch wenn er seiner Partnerin im Alltag hilft.» Auch sie plädiert für strengere Aufnahmekriterien. Grigolia geht von 50 000 Personen aus, die wirklich als pflegende Angehörige infrage kommen: «Zu denen müssen wir schauen. Die sollen zu guten Bedingungen angestellt und begleitet werden, damit sie die Pflegeheime entlasten können.»

Wie es funktionieren könnte, zeigt die private, aber gemeinnützige Spitex Solicare. Diese ist als eine von wenigen privaten Spitex-Organistaionen Mitglied bei Spitex Schweiz, dem Verband der Non-Profit-Anbieter, die Qualitätsstandards verpflichtet sind. Solicare stellt Angehörige in Eigenregie an, kooperiert aber auch mit Non-Profit-Anbietern. Bei der Auswahl der Angestellten ist die Privatspitex strenger als andere: «Wir haben seit 2020, als wir anfingen, rund 1800 Bedarfsabklärungen gemacht, aber nur 300 Personen angestellt, auf siebzehn Kantone verteilt», sagt Geschäftsführer Romano Ricciardi. Er weiss, dass das nicht alle so machen: «Wir nehmen einen von sechs, andere nehmen sieben von sechs. Sie erfinden quasi Fälle, weil es sich rechnet – insbesondere, wenn man keine Qualitätsstandards einhält.»

Die Strategie der Krankenkassen

Doch in der öffentlichen Debatte geht es nur am Rand um Unternehmen wie Solicare, sondern vor allem um Firmen wie Pflegewegweiser. Diese hat sich in wenigen Jahren eine starke Marktmacht aufgebaut – und will weiterwachsen. Langfristig wolle man eine «flächendeckende Verfügbarkeit unseres Angebots in der gesamten Deutschschweiz». Das macht die Kantone nervös, die mit immer neuen Regulierungen reagieren. Entweder senken sie die Restkostenbeiträge der Gemeinden wie in Zürich, im Aargau und in Bern (oder streichen sie gar wie in Teilen der Romandie) und schmälern damit die Margen der Firmen, oder sie vergeben für die Angehörigenpflege exklusive Leistungsaufträge an gemeinnützige Anbieter wie die Caritas, um den Markt abzuschotten.

Doch dabei könnte mehr kaputtgehen als ein gutes Geschäft. Denn was, wenn es Pflegewegweiser gar nicht um den maximalen Profit geht, sondern um etwas ganz anderes?

Pascal Girardat glaubt, dass Pflegewegweiser in erster Linie ein Vehikel der Krankenkassen ist, um den grossen kommenden Kostenblock, die ambulante Pflege, unter Kontrolle zu bringen. Girardat war zehn Jahre lang Unternehmensberater, dann baute er ein E-Health-Unternehmen auf. Heute betreibt er mit seiner Partnerin Grigolia die Privatspitex Prica. Er vermutet: «Die Krankenkassen bereiten den frontalen Angriff auf die ambulante Versorgung in der Pflege vor.»

Im Szenario, das Girardat skizziert, hat Pflegewegweiser eine dominante Stellung in der Angehörigenpflege erreicht. Weil die Kantone und Gemeinden die Vergütungstarife gesenkt haben, wurden Spitexfirmen, die auf Qualität setzten, aus dem Geschäft gedrängt. Das kapitalstarke, kostendrückende Unternehmen Pflegewegweiser überlebt aber. CSS und Helsana könnten durch ihre Beteiligung am Mutterkonzern der Firma dieser zudem rare Pflegefachkräfte zuschanzen, die bei den Kassen wegen des zunehmenden Einsatzes von künstlicher Intelligenz in der Leistungsüberprüfung überflüssig werden. Und schliesslich könnten die Kassen ihren Kund:innen einen Prämienrabatt versprechen, wenn sie Leistungen bei Pflegewegweiser beziehen, analog zum heutigen Hausarztmodell.

Den Krankenkassen würde so gelingen, was im Schweizer Gesundheitssystem eigentlich ausgeschlossen ist: Plötzlich wären Bezahler und Erbringer von Leistungen unter einem Dach vereint. Die logische Konsequenz wäre eine Qualitätsminderung der heutigen Pflege. Girardat vermutet, dass die Krankenkassen mit Pflegewegweiser bald auch den klassischen Spitexbereich unter ihre Kontrolle bringen wollen. Mit einheitlicher Struktur und Software sowie genügend Pflegepersonal und Kapital hätte die Firma unschlagbare Vorteile. Girardat verweist auf einen entsprechenden Warnbrief des Zürcher Spitexverbands an die eigenen Mitglieder. Dort bestätigt man, dass sich Pflegewegweiser um Verordnungen bemühe, um etwa auch Wundpflege machen zu können. Pflegewegweiser will sich dazu nicht äussern. Die Turbulenzen rund um die Angehörigenpflege könnten so ein Vorbote sein – für ein grösseres Beben im Pflegebereich.