El Salvador: Den Armen die Hand gereicht, aber nicht mehr

Nr. 5 –

Die erste Linksregierung in der Geschichte El Salvadors hat viele Sozialprogramme aufgelegt. Ein struktureller Wandel des von Oligarchen und Militärs geschaffenen Staates aber steht noch aus. Jetzt wird die Regierung neu gewählt.

Jeden Freitag fährt Wandee Mira aufs Land. Die kleine 43-jährige Frau mit der Lesebrille in den krausen schwarzen Haaren oder tief auf der Nase ist Gynäkologin. Zusammen mit einer Ernährungsberaterin, einer Psychologin, einer Kinderärztin, einem Internisten und einer Physiotherapeutin steigt sie auf die Ladefläche eines Pick-ups und fährt aus San Salvador hinaus in einen der neun Weiler der Gemeinden Panchimalco, Rosario de Mora und San Marcos. In dieser Gegend ist der Anteil der Indígenas an der Bevölkerung besonders hoch, die Menschen sind besonders arm.

Mira betreut die Schwangeren in diesen Gemeinden. «Ich bin zuständig für Risikoschwangerschaften», sagt sie. «Aber in dieser Gegend gibt es eigentlich nur Risikoschwangerschaften.» Mädchen, die kaum im gebärfähigen Alter und schon schwanger sind; vierzigjährige Bäuerinnen, die schwer arbeiten und schon zehn Schwangerschaften hinter sich haben. «Dass von diesen Kindern eines stirbt, gehört für diese Frauen mit zur Natur», sagt die Ärztin. Kaum eine hat je ein Krankenhaus von innen gesehen. «Sie erschrecken, wenn sie meine gynäkologischen Instrumente sehen.» Wandee Mira ist der erste Kontakt armer Frauen mit dem öffentlichen Gesundheitswesen.

Die Gratisversorgung mit solchen mobilen medizinischen Einheiten gibt es inzwischen für 166 der 232 Gemeinden des zentralamerikanischen Kleinstaats El Salvador. Die Einheiten gehen in Dörfer hinaus, die früher nie ein Arzt betrat. Dieses Programm ist das Herzstück einer Gesundheitsreform der ersten Linksregierung des Landes. Siebzehn Jahre musste die ehemalige Guerilla der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) warten, bis sie nach dem 1992 beendeten Bürgerkrieg mit rund 80 000 Toten bei der Wahl von 2009 endlich das Jahrzehnte dauernde Regierungsmonopol der traditionellen Oligarchie und ihrer ultrarechten Partei der Republikanisch-Nationalistischen Allianz (Arena) brechen konnte.

«Kein struktureller Wandel»

Jetzt, da die nächste Präsidentschaftswahl ansteht, ist es Zeit für eine Bilanz, und die fällt gemäss Medardo González, seit zehn Jahren Generalsekretär der FMLN, positiv aus. Mit der Gesundheitsreform, sagt er, «hat die Regierung den Armen die Hand gereicht». Und nicht nur damit. González, im Bürgerkrieg bekannt als Comandante Milton, führt eine ganze Reihe weiterer Sozialprogramme an: eine Minimalrente für mittellose Alte, Schulpakete mit Uniformen, Schuhen, Heften und Bleistiften für die Kinder armer Familien, Aus- und Fortbildungszentren für Frauen, Saatgutpakete für KleinbäuerInnen, Arbeitsbeschaffungsprogramme für Jugendliche und alleinerziehende Mütter. Die meisten dieser Programme sind noch nicht flächendeckend, sondern laufen zunächst nur in den ärmsten Gemeinden des Landes. Aber immerhin: Präsident Mauricio Funes sprach in seiner Neujahrsrede «mit grosser Befriedigung» davon, «dass sich das Land, das wir übernommen haben, verändert hat».

So einig waren sich Präsident und Partei nur selten. Funes ist kein ehemaliger Guerillero, sondern war El Salvadors prominentester Fernsehjournalist. Erst zur Wahl wurde er von der FMLN als Kandidat adoptiert, um in der politischen Mitte die Stimmen zu gewinnen, die der Linkspartei vorher zu einem Wahlsieg immer gefehlt hatten. Kaum im Amt, umgab er sich mit befreundeten Unternehmern und regierte oft an der FMLN vorbei. Lange stritten sich Funes und die Partei, zuletzt lebten sie friedlich nebeneinander her.

Das hatte Konsequenzen: «Es gab keine Koordination in der Regierung, keine klare Linie», sagt Roberto Rubio, Direktor der entwicklungspolitischen Denkfabrik Funde, die in El Salvador unter anderem die Antikorruptionsorganisation Transparency International vertritt. Sicher, vielen Armen hätten diese Sozialprogramme geholfen. Im Grunde aber habe die Linksregierung fast nur Programme erweitert, die von der rechtspopulistischen Vorgängerregierung begonnen wurden. «Statt eines strukturellen Wandels haben wir mehr vom selben bekommen und alles finanziert über neue Schulden», sagt Rubio. In der Regierungszeit von Funes ist die Staatsverschuldung um die Hälfte auf rund sechzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gestiegen – eine Ziffer, die für Industrienationen akzeptabel sein mag. Für ein Land, dessen Wirtschaftskreislauf von den Überweisungen der zwei Millionen in den USA lebenden SalvadorianerInnen abhängt, ist sie gefährlich.

Geld in der «diskreten» Kasse

Das gesteht auch Generalsekretär González ein. «Wir können nicht immer nur mit der Kreditkarte bezahlen», sagt er. Wenn die Sozialprogramme langfristig finanziert werden sollten, «braucht das Land mehr Steuergerechtigkeit». Die Reichen müssten ein bisschen von ihrem Reichtum abgeben. Für eine grundlegende Steuerreform aber «fehlt uns die Mehrheit im Parlament». Mit ein paar kosmetischen Korrekturen wie der Erhöhung der Tabak- und der Alkoholsteuer sei es immerhin gelungen, das Steueraufkommen von 13 auf 15 Prozent des BIP zu erhöhen. El Salvador hat damit nach wie vor eine der niedrigsten Staatsquoten der Welt und bleibt weit hinter dem lateinamerikanischen Durchschnitt von 21 Prozent zurück.

Völlig unklar ist, wie viel Geld von diesen wenigen Einnahmen in dunklen Kanälen verschwindet. Rubio lobt zwar das Bauministerium, das viele von Vorgängerregierungen begonnene Projekte zu Ende gebracht habe. Die waren wegen verschwundener Gelder halb fertig geblieben «und standen jahrelang als Denkmäler der Korruption in der Landschaft». Ein grundsätzliches Umdenken aber habe es auch da nicht gegeben.

Noch immer verfügt der Präsident ganz legal über eine sogenannte «diskrete» Kasse, von der nicht einmal bekannt ist, wie viel Geld darin ist. Noch immer ist es möglich, dass Ministerien nicht verwendete Mittel an den Regierungspalast zurückgeben, der dann keinerlei Rechenschaft darüber ablegen muss. Rubio schätzt, dass in den fünf Regierungsjahren von Funes auf diese Art rund 500 Millionen US-Dollar der öffentlichen Kontrolle entzogen wurden. In einem Land mit knapp sechs Millionen EinwohnerInnen, von denen 35 Prozent in Armut leben, ist das eine Menge Geld. «Der Präsident kann damit machen, was er will», sagt Rubio. «Er kann sich eine Jacht kaufen, kann Leute bestechen, das Geld ins Ausland verschieben …» Von Jachten wurde nichts bekannt. Aber auf dem Parkplatz von Funes stehen neben den Staatskarossen ein Ferrari und ein Hummer. Mit einem Präsidentengehalt von knapp über 5000 US-Dollar im Monat lassen sich solche Fahrzeuge kaum finanzieren.

Die Gynäkologin Wandee Mira arbeitet für 1100 US-Dollar im Monat. In einer Privatpraxis könnte sie ein Vielfaches verdienen. «Es ist deshalb schwer, Spezialisten zu finden», sagt sie. «Vor allem Internisten fehlen uns.» Zum niedrigen Gehalt kommt die Gefahr: In den Gemeinden, die Mira betreut, sind die als Maras bekannten kriminellen Jugendbanden besonders aktiv. Es gibt kaum einen Kindergarten, kaum eine Schule, kaum einen Tante-Emma-Laden, der kein Schutzgeld an diese Mafias bezahlt. Nur die Zahl der Toten, die auf das Konto der Maras gehen, hat in den vergangenen beiden Jahren deutlich abgenommen.

Generäle in zivilen Ämtern

El Salvador war lange das gewalttätigste Land der Welt ausserhalb von Kriegsgebieten. Durchschnittlich vierzehn Menschen wurden jeden Tag ermordet. Seit es Vermittlern des Verteidigungsministers gelungen ist, einen Waffenstillstand zwischen den beiden grossen Mara-Verbänden auszuhandeln, hat sich diese Zahl nahezu halbiert. Funes steckt sich das gerne als Erfolg ans Revers, betont aber gleichzeitig, er habe damit nichts zu tun, weil die Regierung nicht mit Verbrechern verhandle.

Er tut gut daran, Distanz zu diesen Verhandlungen zu behaupten. Denn an den anderen Machenschaften der Maras – Schutzgelderpressung, Raub und Drogenhandel – hat sich vorläufig nichts geändert. Rund 60 000 Mitglieder haben diese Banden landesweit. Sie und ihre Familien, zusammen fast eine halbe Million Menschen, leben von diesen Delikten. Sie würden nur dann die kriminellen Geschäfte beenden, wenn die Regierung ihnen Arbeitsplätze verschafft, liessen die Bandenführer verlauten. Und sie machen Druck: Die Zahl der Ermordeten steigt seit ein paar Wochen wieder an.

Genauso wie die rechten Präsidenten der Region setzte Funes bei der Verbrechensbekämpfung auf die Armee und hat ihr damit ein Gewicht gegeben, wie sie es seit dem Ende des Bürgerkriegs nicht mehr hatte. Er hat sogar ein Tabu gebrochen, das nicht einmal seine Vorgänger von der Arena-Partei anzurühren wagten: Im November 2011 hat er einen General zum Minister für innere Sicherheit gemacht und einen weiteren General zum Polizeichef. Die Verfassung verbietet das.

FMLN-Generalsekretär González ist auf Ausgleich bedacht und versucht meist, die Konflikte mit dem Präsidenten zu übertünchen. Bei diesem Thema aber wird er grantig: «Wir haben für die Entmilitarisierung des Landes gekämpft und den Friedensvertrag mit unterschrieben», sagt er mit ungewohnter Entschiedenheit. Angesichts der Geschichte des Landes dürfe es über das Verfassungsverbot für Militärs in der inneren Sicherheit keine Diskussionen geben. «In diesem Punkt stellen wir uns gegen den Präsidenten und haben das auch öffentlich gesagt.»

González hat recht bekommen. Das Verfassungsgericht hat nach eineinhalb Jahren die Absetzung der Generäle aus ihren zivilen Ämtern angeordnet. Wenigstens das.

Präsidentschaftswahl : Links knapp vor rechts

Fünf Männer stehen zur Auswahl, wenn die Bevölkerung El Salvadors am kommenden Sonntag zur Wahl eines Präsidenten aufgerufen ist. Wahlentscheidend sind nur drei: Salvador Sánchez Cerén, ehemals Guerilla-Comandante und heute Vizepräsident, der für die Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) antritt; Norman Quijano, Bürgermeister der Hauptstadt San Salvador, als Vertreter der extrem rechten Republikanisch-Nationalistischen Allianz (Arena); und Antonio Saca, der von 2004 bis 2009 schon einmal Präsident war, damals für die Arena. 2009, nach einer historischen Wahlniederlage gegen die FMLN, wurde er aus der Partei ausgeschlossen, gründete seine eigene und hat für diese Wahl das Bündnis Unidad (Einheit) aus käuflichen Abgeordneten mehrerer Parteien geschmiedet.

Fast alle Umfragen sehen Sánchez Cerén als Wahlsieger. Aber nur ganz wenige trauen ihm eine Mehrheit von über fünfzig Prozent der gültigen Stimmen zu, die für eine direkte Wahl notwendig ist. Alle anderen sagen ein eher knappes Rennen zwischen FMLN und Arena voraus.

In einer in diesem Fall anstehenden Stichwahl am 9. März wird entscheidend sein, wie sich die gut zehn Prozent der WählerInnen entscheiden werden, die laut Umfragen am Sonntag für Antonio Saca stimmen werden. Einerseits stehen sie politisch eher rechts, andererseits sind sie der Arena wegen des Parteiausschlusses ihres Kandidaten nicht eben wohlgesinnt.

Die beiden anderen Kandidaten liegen in Umfragen bei unter einem Prozent.

Toni Keppeler

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