Corona: Der Zertifikatstest

Nr. 42 –

Am 28. November kommt das Covid-19-Gesetz zur Abstimmung. Im Zentrum der Kritik steht dabei das Covid-Zertifikat. Wahrt es die Grundrechte? Die WOZ hat die Vorlage geprüft.

Wie kommen wir da wieder heraus?

Es war eine fast schon prophetische Frage, die das Popmagazin «Spex» im Jahr 2007 auf der Titelseite stellte: «Was sagt uns dieser Code?» Zu sehen war eine rätselhafte Ansammlung schwarzer Quadrate – die erste Abbildung eines QR-Codes in Deutschland überhaupt. «QR» steht für «quick response», rasche Antwort. Ursprünglich war der Code 1994 von einem Zulieferer des Autoherstellers Toyota entwickelt worden, um die Produktionsabläufe zu beschleunigen. Im Gegensatz zum herkömmlichen Bar- oder Strichcode kann der QR-Code deutlich mehr Informationen speichern.

Was sagt uns dieser Code? Die Frage stellt sich heute täglich: Von der Banküberweisung bis zum Impfnachweis ist der QR-Code aus dem Alltagsleben nicht mehr wegzudenken. So schnell die Quadrate gescannt sind – es lohnt sich gerade beim Covid-Zertifikat, innezuhalten: Wie lässt es sich mit den Grundrechten vereinbaren? Was geschieht mit den sensiblen Gesundheitsdaten? Und wie kommen wir aus der ganzen Sache wieder raus?

Die Fragen stellen sich im Hinblick auf die zweite Abstimmung über das Covid-19-Gesetz am 28. November 2021. Neben den Gegner:innen von rechts hat sich auch ein linkes «Komitee der Geimpften gegen das Covid-Zertifikat» gebildet. Was taugt die Kritik? Die WOZ hat den Grundrechtecheck gemacht.

Werden Grundrechte tangiert?

Markus Schefer, Staatsrechtler an der Universität Basel, weist darauf hin, dass die Zertifikatspflicht nicht primär einen Ausschluss bedeutet, sondern einen Einschluss ermöglicht. Zwischen den Extremen der Pandemiebekämpfung, dem kompletten Lockdown und der umfassenden Öffnung, erlaube sie es allen Geimpften, Getesteten und Genesenen, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Die Grundrechtseinschränkungen aller anderen müssten nach ihrem Ausmass und der Dauer beurteilt werden. «Bisher ist der Bundesrat einigermassen zurückhaltend vorgegangen», sagt Schefer.

Die Bedürfnisse des öffentlichen Lebens – ob beim Einkaufen oder im Verkehr – seien noch immer für alle garantiert. Auch der Zugang zur Bildung sei gewährleistet. An der Universität Basel, an der Schefer unterrichtet, gilt zwar ab November Zertifikatspflicht. Wenn immer möglich, würden die Veranstaltungen aber auch online übertragen. Entscheidend ist für Schefer, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens befristet sind: Die Zertifikatspflicht beim Besuch von Restaurants und Veranstaltungen gilt bis zum 24. Januar des kommenden Jahres. Vor allem aber ist die Rechtsgrundlage für das Zertifikat im Covid-19-Gesetz selbst befristet, nämlich bis zum 31. Dezember 2022. Danach müsste die Bundesversammlung eine Verlängerung der Bestimmung im Gesetz beschliessen, mit neuerlicher Referendumsmöglichkeit. «Die Vermutung, dass hier schleichend ein Überwachungssystem installiert wird, ist deshalb nicht haltbar», sagt Schefer.

Der Staatsrechtler weist auf ein wichtiges Detail hin: Wenn über das Covid-19-Gesetz abgestimmt wird, geht es nicht um den eingeschränkten Zugang zu Restaurants oder Kulturlokalen. Diesen hat der Bundesrat auf Grundlage des Epidemiengesetzes beschlossen. Das Covid-19-Gesetz regelt einzig den fälschungssicheren Nachweis einer Impfung und somit eine rein technische Frage. Dies hätte der Bundesrat auch auf dem Verordnungsweg beschliessen können; das Parlament schrieb es aber ins Gesetz. «Rein rechtlich könnte der Bundesrat die Einschränkungen des öffentlichen Lebens bei einem Nein am 28. November problemlos in Kraft lassen. Politisch wäre dies aber kaum haltbar.»

Was wird wo gespeichert?

Informatikprojekte des Bundes hatten bisher keinen guten Ruf. Mit der Einführung des Covid-Zertifikats hat das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT) nun für eine Überraschung gesorgt. Es setzte sich gegen fünfzig Konkurrent:innen durch und schuf in nur sieben Wochen ein System, das praktisch reibungslos funktioniert. Die Lösung erfüllt dabei die Anforderungen an Datensparsamkeit und Transparenz: So ist das Zertifikat nicht zentral gespeichert, sondern nur dezentral bei den Besitzer:innen. Der Quellcode des Systems ist Open Source und damit öffentlich zugänglich.

Und die Schweiz hat als internationale Vorreiterin sogar ein «Zertifikat light» entwickelt. Als Benutzer:in kann man damit die Gesundheitsdaten jeweils für 48 Stunden ausblenden. Bei einer Überprüfung erfährt niemand, wann und mit welchem Stoff man geimpft worden ist. «Ich würde mich glücklich schätzen, wenn der Staat bei allen seinen digitalen Projekten die Privatsphäre als Grundsatz so stark beachten würde», lobt Balthasar Glättli das Projekt. Der Grünen-Präsident gehört zu den wichtigsten Digitalpolitiker:innen im Bundeshaus.

«Erstaunlich vorbildhaft» findet selbst Hernani Marques, einer der Kritiker vom linken Komitee, die Umsetzung. Er weist allerdings darauf hin, dass es wegen des offenen Quellcodes auch möglich ist, bei der Überprüfungsapp Speichermöglichkeiten zu ergänzen: Ein Barbetreiber könnte damit seine Stammgäste digital erfassen. Marques kritisiert den Nutzen des Zertifikats vor allem in epidemiologischer Hinsicht: «Weil auch Geimpfte ansteckend sind, sorgt es für eine Scheinsicherheit.» Der IT-Experte wäre denn auch nicht für eine Lockerung der Massnahmen, sondern für eine finanziell abgesicherte Schliessung von Clubs und anderen Hochrisikoorten, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kenne.

Gibt es eine Exitstrategie?

Wenn die Temperaturen in den kommenden Wochen weiter sinken, steht womöglich ein zweiter harter Coronawinter bevor; die wissenschaftliche Taskforce des Bundes warnt entsprechend vor einer erneuten starken Belastung des Gesundheitswesens. Was ist vorgesehen, wenn die Zertifikatspflicht ausläuft? Wird sie dann einfach aufgehoben? Nach welchen Kriterien wird über eine mögliche Verlängerung entschieden? Die behördlichen Aussagen dazu fielen bisher vage aus.

Letzte Woche hat der Bundesrat immerhin eine Art Exitstrategie angekündigt: Demnach müssen sich in den kommenden Wochen rund eine Million Menschen für eine Impfung entscheiden, damit die geltenden Schutzmassnahmen – und damit auch der Einsatz des Covid-Zertifikats – aufgehoben werden. Um das zu erreichen, plant der Bund für November eine Offensive, die er sich rund hundert Millionen Franken kosten lassen will und von der er sich vor allem eine grossflächige Mobilisierung der Landbevölkerung erhofft.

Grünen-Präsident Balthasar Glättli begrüsst das. In den letzten Monaten habe die Ausstiegsperspektive gefehlt, sagt er. Die Deklaration des Impfziels helfe den Leuten nun auch, mit Unsicherheiten umzugehen – selbst wenn ein Vorbehalt wegen aggressiverer Coronavarianten bleibe.

Was heisst das für Sans-Papiers?

Die Echtheit des Covid-Zertifikats muss vor dem Zugang zu Restaurant oder Club mit einem Ausweis belegt werden. Was heisst das für Sans-Papiers, die über keine gültigen Aufenthaltspapiere verfügen? Auch sie können durch Impfen, Testen oder nach einer Covid-Erkrankung ein Zertifikat erhalten. «Bei den Ratsuchenden der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers steht derzeit der Zugang zum Impfen im Vordergrund», erklärt Karin Jenni, Koleiterin der Stelle. Ein grosses Hindernis bei der Impfung für Sans-Papiers war zu Beginn das häufige Fehlen einer Krankenversicherung und die grosse Angst, irgendwelche Daten preisgeben zu müssen. Dabei konnte die Beratungsstelle mit den zuständigen Behörden klären, dass die Daten ausschliesslich für gesundheitliche Zwecke verwendet und die Kosten der Impfung vom Bund übernommen werden.

Bei den Anfragen an die Beratungsstelle geht es hauptsächlich um die Gesundheit, manchmal auch um den Zugang zu Kultur- oder Sportveranstaltungen. So habe sich ein junger Mann wegen der Impfung erkundigt, weil er das Zertifikat für den Besuch von YB-Spielen wollte. Gemäss dem BAG reicht für den Identitätsnachweis auch der etwa im öffentlichen Verkehr verwendete Swiss Pass. Viele Sans-Papiers verfügten zudem über Pässe oder Identitätskarten aus ihren Herkunftsländern, sagt Jenni. «Insgesamt ist zu hoffen, dass die Veranstalter:innen bei der Identitätsüberprüfung den vom BAG gegebenen Spielraum auch nutzen und verschiedene Ausweisdokumente akzeptieren.»

Wohin gehen die Club-Daten?

«Diskotheken und Tanzlokale» müssen beim Einlass nicht nur nach dem Covid-Zertifikat fragen, sondern zusätzlich auch die Kontaktdaten erheben. Diese Sonderbehandlung des Nachtlebens wird offiziell mit der Angst vor einem «Superspreaderevent» begründet. Das BAG schreibt, dass es in Clubs schwierig sei, die Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Wie genau die Lokale die Kontaktdaten erfassen, ist ihnen selbst überlassen.

Beim Berner Club ISC etwa hat man nach dem ersten Lockdown 2020 die Angaben der Gäste zuerst handschriftlich erfasst, da es damals noch keine anderen Optionen gab. «Das war natürlich datenschutztechnisch sehr bedenklich», sagt die Kommunikationsverantwortliche Jacqueline Brügger. Wie die meisten Berner Nachtlokale nutzt auch der ISC mittlerweile eine von der Berner Bar- und Clubkommission zur Verfügung gestellte App, bei der man sich einmalig registrieren muss. Die Liste der Gäste muss innert 24 Stunden an den Kanton übermittelt werden und wird dort gespeichert.

Die betreffende Datenbank auf dem Serverumfeld des Kantons sei sehr sicher, sagt Gundekar Giebel von der Berner Gesundheitsdirektion. Auf die spezifischen Daten darf nur zugegriffen werden, wenn bei einer Veranstaltung ein Covid-Fall nachgewiesen wird, ansonsten werden die Einträge nach vierzehn Tagen gelöscht. Wenn es aber einen Fall gibt und die Liste offensichtlich falsche Daten enthält, geht diese nicht nur zur Contact-Tracing-Stelle, sondern je nach Fall auch an die Staatsanwaltschaft. «Die Clubbetreibenden haften für die Richtigkeit der Kontaktangaben», sagt Giebel. Bei fehlerhaften Listen werden nicht nur die Clubs gebüsst: Die Staatsanwaltschaft erhält gleichzeitig die persönlichen Angaben all jener, die sich am fraglichen Anlass befanden.

Was könnte noch kommen?

Zu den linken Gegner:innen des Covid-19-Gesetzes zählt auch Autorin und WOZ Kolumnistin Sibylle Berg.* Sie schlägt Alarm: «Mit dieser Art Gesundheitsnachweis kann die Infrastruktur für eine totale Überwachung gelegt werden», begründet sie ihre Ablehnung des Zertifikats. Aber ist der QR-Code als epidemiologische Eintrittskontrolle tatsächlich gekommen, um zu bleiben? Mögliche Hinweise darauf finden sich im eben erschienenen Buch «Sortiermaschinen» des deutschen Soziologen Steffen Mau (siehe WOZ Nr. 36/2021 ). Innert weniger Monate sei aus der Forderung, die Bewegungsfreiheit Einzelner an den Gesundheits- oder Immunitätsstatus zu knüpfen, eine weltweit verbreitete politische Praxis geworden, schreibt er. Neu ist diese Entwicklung nicht, wie Mau nachzeichnet. So würden schon heute in vielen Ländern Impfnachweise oder HIV-Tests für die Visavergabe verlangt.

Soziologe Mau weist in seinem Buch aber auf einen weiteren bedenkenswerten Punkt hin: «Die globale Ungleichverteilung des Impfstoffes ist so gravierend, dass die Impfprivilegien des globalen Nordens wohl für längere Zeit auch Mobilitätsprivilegien seiner Bürgerinnen und Bürger festschreiben werden», bemerkt er. «Bewegungsfreiheit und Gesundheitspässe für die Geimpften heisst eben auch Vorfahrt für diejenigen, die es sich leisten können, gesundheitliche Risiken zu minimieren oder auszuschliessen.»

* Korrigendum vom 25. Oktober 2021: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion hiess es, Berg sei auch Mitglied des «Komitee der Geimpften gegen das Covid-Zertifikat». Das ist nicht der Fall.