Durch den Monat mit Heidi Hollenweger (Teil 1): Warum rast jemand?

Nr. 49 –

Heidi Hollenweger: «Man kann als Raser rücksichtsvolles Autofahren lernen. ­Davon bin ich überzeugt.»

WOZ: Heidi Hollenweger, Sie sind seit zwanzig Jahren in Zürich in der Bewährungshilfe für Verurteilte tätig. Mit welchen Delikten waren Sie am häufigsten konfrontiert?
Heidi Hollenweger: In der Abteilung Lernprogramme, die ich in den letzten Jahren geleitet habe, hatte ich mehrheitlich mit Männern zu tun, die uns von den Staatsanwaltschaften zugewiesen wurden, weil sie wegen massiv übersetzter Geschwindigkeit im Strassenverkehr, Alkohol am Steuer oder wegen häuslicher Gewalt zu einer bedingten Strafe verurteilt wurden.

Zürich führt als erster Kanton Gruppentrainings für Straffällige durch. Was lernen die Betroffenen dort?
Ziel der Lernprogramme ist, das Rückfallrisiko zu reduzieren.

Dass man also beispielsweise als Raser zum rücksichtsvollen Autofahrer wird – ist das lernbar?
Ja, davon bin ich überzeugt. Die Teilnehmenden setzen sich mit ihren Taten auseinander, auch mit dem, was vorher passierte: ihre Motivation und Bereitschaft, die jeweilige Tat zu begehen. In einem zweiten Teil erarbeiten sie auf sie zugeschnittene Szenarien, um im «Notfall» gewappnet zu sein.

Fokussiert man im ersten Teil also auf soziale Probleme, mit der eine Person konfrontiert ist?
Nein, es geht nicht um soziale Probleme, sondern um Einstellungen, die einer Straftat zugrunde liegen.

Es ist also reine Einstellungssache, wenn einer einbricht?
Ja, es hat sehr viel mit Einstellungen zu tun. Der Einbrecher entscheidet sich, auf diesem Weg zu Geld zu kommen. Es geht darum, genau zu prüfen, wie es zu diesem Entscheid gekommen ist. Und welche Gedanken am Schluss dazu geführt haben, dass er tatsächlich eingebrochen ist. Als Nächstes geht es um die Frage, was der Betroffene in seinem System ändern muss, damit er nicht rückfällig wird. Dies betrifft eigentlich alle Delikte.

Die Leute lernen, sich selber besser zu verstehen?
Ja, die Kurse orientieren sich an der Verhaltenstherapie. In einem ersten Teil wird das Delikt in mehreren Stufen nochmals durchgegangen, angefangen vor der eigentlichen Tat. Es wird herausgearbeitet, was jemand gedacht und gefühlt hat, und welches die Gedanken und Gefühle nach der Tat waren. So sehen wir, woran wir mit der betreffenden Person arbeiten müssen. Natürlich geben wir den Kursteilnehmern auch Sachinformation mit auf den Weg. Wichtig ist, dass die Delinquenten davon wegkommen, ihre Tat zu bagatellisieren, was ein oft anzutreffendes Verhalten ist.

Auch unter Rasern, wie wir aus den Boulevardmedien wissen. Weshalb rast einer eigentlich?
Alkohol ist oft im Spiel. Es gibt jedoch verschiedene Ursachen für zu schnelles Fahren. Für manche bedeutet das Auto viel, bei wenigen sogar mehr als die Beziehung zur Partnerin.

Bitte?
Ja, das haben wir schon gehört. Auch die Zeit, die diese Leute fürs Tunen und Pflegen ihrer Wagen aufwenden, ist enorm.

Aber die Liebe zum Auto macht noch keinen Raser, oder?
Nein, natürlich nicht. Aber bei den Jüngeren ist es häufig so: Wer einen starken Motor hat, will diesen auch ausloten. Den Fuss aufs Pedal drücken – und es geht los. Das kann jemandem sehr viel bedeuten. Es gibt auch Leute, die einfach Freude am Tempo haben. Oder solche, die unter Stress zu schnell fah-ren. Und dann gibts auch eine Gruppe von Leuten, die findet, die Strassenverkehrsgesetzgebung sei zu streng.

Wenn sie erwischt werden, sind die Gesetze schuld, nicht sie selber?
Genau. Mit diesen Personen ist die Arbeit an der Rückfallverminderung entsprechend schwierig.

Rückfallrisiko, Abstinenz – das erinnert alles an Sucht . . .
Der Vergleich ist nicht abwegig. Rasen kann ein Suchtpotenzial haben. Aber nicht jeder, der regelmässig zu schnell fährt, weil er die Wirkung schätzt, ist ein Süchtiger. Auch da gibt es Stufen, wie beim Alkohol- und Drogenkonsum. Bei notorischen Rasern sind die Liebe zum Auto und das Rauschgefühl aber schon mehr oder weniger wie eine Sucht.

Die Sozialarbeiterin Heidi Hollenweger, 61, ist seit zwanzig Jahren in der Bewährungshilfe des Kantons Zürich tätig, seit Oktober 1999 leitet sie die Abteilung Lernprogramme. 2004 überreichte ihr Prinzessin Anne in England eine internationale Auszeichnung für besondere Dienste in der Bewährungshilfe. Diesen Monat [Dezember 2008] geht Hollenweger in Pension.