Kommentar von Daniel Stern: Günstiges Öl, günstiger Zeitpunkt
Der tiefe Ölpreis führt dazu, dass viele Ölkonzerne neue Förderprojekte auf Eis legen. Allerdings verhindert billiges Öl auch den dringend nötigen Umbau der Wirtschaft.
Alberta hat es besonders stark erwischt. In der westlichen Provinz Kanadas herrschte noch vor wenigen Monaten Hochstimmung. In Calgary und Edmonton übertrumpften sich die Ölkonzerne mit immer prunkvolleren Firmensitzen, die Provinzregierung tat alles, um ihnen den Bau von neuen Förderprojekten in den Ölsandgebieten um die Boomstadt Fort McMurray zu erleichtern. Eine Autobahn wurde durch die Wälder gepflügt, ein neuer Flughafen errichtet, Bedenken der UmweltschützerInnen beiseite gewischt. «Alberta ist Energie» lautete die Parole der Ölbarone, und die BewohnerInnen glaubten es. Die Förderung des besonders schmutzigen und nur unter hohem Energieaufwand und grossen Kosten zu produzierenden Rohöls aus den Ölsandgebieten sollte sich bis 2030 auf das Zweieinhalbfache steigern.
Jetzt geht in Alberta die Angst vor der Rezession um. Der Ölpreis ist in den letzten Monaten von über 100 US-Dollar pro Fass auf derzeit unter 50 Dollar gesunken. Das ist viel zu wenig, um nur schon die Produktionskosten hereinzuholen. Die Energiemultis verlieren Geld, und damit sinken ihre Aktienkurse. Sie reagieren: Der grösste kanadische Ölkonzern Suncor etwa hat vergangene Woche die Streichung von tausend Stellen und die Einsparung von rund 800 Millionen US-Dollar angekündigt. Mehrere Förderprojekte werden auf Eis gelegt.
Alberta ist nicht die einzige Region, in der die fallenden Ölpreise eine Krisenstimmung ausgelöst haben. Länder wie Venezuela und Russland (vgl. «Die Schweiz, spiegelverkehrt» ) sind wirtschaftlich besonders beeinträchtigt worden, nicht zuletzt weil sie, wie Alberta, viel zu stark auf die Ölförderung gesetzt haben.
Dass der Ölpreis so tief fällt, hat viele überrascht. Noch vor wenigen Jahren war das Stichwort «Peak Oil» in aller Munde: Die abnehmenden Ölvorräte würden zu einem unaufhaltsamen Anstieg der Preise führen, war die These. Dabei stiege auch die Gefahr von kriegerischen Auseinandersetzungen um den Zugang zu den verbliebenen Ölquellen. Doch die hohen Preise haben eben auch bewirkt, dass die Ölkonzerne riskantere und teurere Projekte zur Erschliessung neuer Quellen an die Hand genommen haben. So versprach nun auch der energieaufwendige Ölsandabbau in Alberta Profit, das gefährliche Bohren vor den Küsten in immer grösseren Tiefen und immer tiefer in den Meeresboden und selbst die Förderung an so unwirtlichen Orten wie rund um den Nordpol. Und ausgehend von den USA wurden neue Techniken bei der Gewinnung von Öl und Gas aus Schiefergesteinen entwickelt, das Fracking. Förderten die USA 2009 noch 5 Millionen Fass pro Tag, waren es 2014 bereits 8,3 Millionen Fass.
Das Angebot an Erdöl hat also nicht abgenommen. Im Gegenteil: Selbst Saudi-Arabien, das mit Abstand grösste Förderland, hat in den letzten Monaten seine Exportmengen ausgeweitet – und damit die Preise erst richtig gedrückt. Es sitzt am längeren Hebel und scheint der neuen Konkurrenz eins auswischen zu wollen. Denn ein Fass Öl zu fördern, kostet im Wüstenstaat nur gerade fünf bis sechs US-Dollar – ein Bruchteil der Summe, die in Kanada oder den USA nötig ist.
Doch das Problem an diesem Überfluss an günstigem Öl ist offensichtlich. Die Verbrennung von Ölprodukten gilt als eine der Hauptursachen für die Erderwärmung. Wenn jetzt billiges Öl auf dem Markt ist, ist der Anreiz zum Sparen gering. Auch ohne tiefe Preise geht etwa die US-Energieinformationsbehörde von einem weltweiten Anstieg des Verbrauchs um 38 Prozent bis 2040 aus. Besonders Indien und China werden zulegen.
Dabei ist klar: Wenn das Uno-Klimaziel von höchstens zwei Grad Celsius Erderwärmung erreicht werden soll, muss der Verbrauch von Erdöl eingeschränkt werden. Eine eben veröffentlichte Studie in der Zeitschrift «Nature» kommt zum Schluss, dass global mindestens ein Drittel der Ölreserven unangetastet bleiben muss, um dieses Ziel zu erreichen. Albertas Ölsand etwa müsste zum grössten Teil im Boden bleiben, Ölförderungen in der Arktis und viele Frackingprojekte wären gestrichen.
Doch obwohl die meisten Staaten sich vorderhand zu den Klimazielen der Uno bekennen, handelt kaum ein Land gegen die Interessen der Ölkonzerne. In den USA fordert der Kongress immer lauter, dass der Bau der Pipeline Keystone XL bewilligt wird. Sie soll das Öl aus Alberta in die Raffinerien von Texas transportieren. Es wäre ein erneutes Geschenk an die Ölkonzerne, die nicht nur in den USA mit offenen und verdeckten Subventionen gehätschelt werden. Die gute Nachricht ist, dass sowohl in Kanada als auch in den USA eine breite Umweltbewegung neue Pipelines bekämpft. Der von ihnen erzeugte Druck könnte ausreichen, dass US-Präsident Barack Obama nicht nur sein Veto gegen die Forderung des Kongresses einlegt, sondern Keystone XL in naher Zukunft definitiv ablehnt.
Doch damit ist erst wenig gewonnen. Den tiefen Erdölpreis müssen die Staaten nutzen, um substanzielle Schritte weg von der Ölabhängigkeit zu unternehmen, denn zum jetzigen Zeitpunkt fehlt der Kostendruck. Neue Steuern auf Diesel, Benzin und Kerosin würden die Wirtschaft gleichwohl nicht zusätzlich schwächen. Die gewonnenen Einnahmen könnten dazu verwendet werden, den Umstieg auf erneuerbare Energieträger mitzufinanzieren. Wenn nicht jetzt, wann dann?