Nationalliga B: Der geschenkte Gaul vom Bergholz
Seit einem Jahr überschüttet ein türkischer Geschäftsmann den FC Wil mit Geld und Visionen. Er verbreitet damit mehr Skepsis als Euphorie.
Nach einer halben Stunde fliegt der erste Ball über die Stadionmauer, hinaus ins Wiler Südquartier. Er landet auf dem Kinderspielplatz, der vor genau einem Jahr erneuert wurde, Motto: Piraten. Wils Bauvorsteher hielt seine Einweihungsrede damals mit Kopftuch und Augenklappe. «Seit jeher weist dieser Spielplatz für das Südquartier einen hohen Stellenwert auf», zitierten ihn die «Wiler Nachrichten». Von der Tribüne des Stadions Bergholz sind die hölzernen Palmen der Pirateninsel knapp zu sehen. Vorerst noch. Der FC Wil steckt seine Ziele hoch. Er will expandieren.
Orgie von negativen Schlagzeilen
An diesem nasskalten Oktobersonntag ist der FC Winterthur zu Gast. Die Hartgesottenen auf beiden Seiten können sich nicht ausstehen. «Scheiss-Wil-Schaffhuuse», brüllen die einen in Anspielung auf die Freundschaft der Wiler mit dem FCS, irgendwas mit «Huren» kommt zurück. Auffällig ironiefrei gestaltet sich dieses Duell auf den Rängen, und der Spielverlauf vermag das Niveau nicht merklich zu heben: Nur während der ersten Viertelstunde kann der FC Winterthur die Partie offen gestalten, dann gelingt dem FC Wil nach einem glänzenden raumöffnenden Pass des ehemaligen Nationalspielers Johan Vonlanthen das 1 : 0. Von da an spielen die Gastgeber sicher und technisch versiert dem fünften Sieg in Folge entgegen, was Platz zwei hinter dem FCZ bedeuten wird.
Den FCZ noch einzuholen, wird dem FC Wil kaum gelingen. Zu gross ist der Rückstand schon jetzt, zu gut besetzt das Kader der Stadtzürcher. Doch am erklärten Ziel ändert sich nichts: Der FC Wil will in die höchste Spielklasse und von dort, am besten direkt, in den Europacup. Das ist die Marschrichtung, die der türkische Investor und Bauunternehmer Mehmet Nazif Günal vorgab, als er im Sommer 2015 mit seiner internationalen MNG-Gruppe den Verein übernahm. Sportlich sucht der FC Wil seither den Erfolg, indem er, unter Aufwendung offenbar grenzenloser finanzieller Mittel, Spieler am Laufmeter verpflichtet – und sie ebenso rasch wieder feuert. Der Albaner Gjelbrim Taipi zum Beispiel hatte das Pech, im dritten Saisonspiel Anfang August auswärts bei Neuchâtel Xamax einen Penalty an den Pfosten zu setzen. Tags drauf wurde er gebeten, sich einen neuen Verein zu suchen. Für den FC Wil spielte er keine Minute mehr.
Wer wie die Wiler hoch hinauswill, muss sich aber nicht nur mit mühsamen Kaderfragen plagen. Er muss auch bauen. Das Stadion Bergholz wurde zwar 2013 rundum erneuert und fasst seither einen Kunstrasen in moderne Freizeitparkästhetik – für die Nati A, die immerhin «Super League» genannt werden möchte, reichen die paar Betonstufen aber nicht. 8000 gedeckte Sitzplätze fordern die Stadionrichtlinien. Im Bergholz sind es heute ein paar Hundert. Für die neuen Besitzer scheint das kein Problem. Sie möchten der Stadt Wil, der das Bergholz gehört, den nötigen Ausbau des Stadions gerne schenken. Doch bei der Stadt hält sich die Freude in Grenzen.
Ende September debattierte das Wiler Stadtparlament über die Stadionfrage, nachdem 35 von 45 ParlamentarierInnen eine entsprechende Interpellation zu den Ausbauplänen unterzeichnet hatten. Die Skepsis ist gross. Diesem geschenkten Gaul müsse sehr genau ins Maul geschaut werden, forderte die SP. Und erhielt wenig Widerspruch. Was wiederum wenig verwundert, hält man sich die jüngste Geschichte des FC Wil vor Augen.
2002 stieg der Verein in die Nati A auf. Im Kantonsderby schlug er den FC St. Gallen rekordhoch mit 11 : 3, worauf sich die geprügelten Hauptstädter mit einem ganzseitigen Zeitungsinserat bei ihrem Anhang entschuldigten. Der FC Wil wiederum jubelte nur kurz: Wenige Tage nach dem Sieg flog auf, dass Vereinspräsident Andreas Hafen bei seinem Arbeitgeber UBS 51 Millionen Franken veruntreut und 10 davon in den FC Wil gesteckt hatte – auf Nimmerwiedersehen. Als Hafen weg war, kamen die Ukrainer. Investoren um den ehemaligen sowjetischen Spitzenspieler Igor Belanow beglückten den Klub mit wenig Geld, aber laufend neuem Personal. Was zum allgemeinen Erstaunen für den Cupsieg 2004 reichte, vor allem aber zu einer Orgie negativer Schlagzeilen führte – und letztlich zum Abstieg. Seither spielt der FC Wil in der Nati B, und abgesehen von ein paar dritten Plätzen war es ruhig geworden um ihn. Bis im Sommer 2015 die Türken kamen. Und mit ihnen die Nebengeräusche.
Ohne jeden Lokalbezug
Die aus der Vergangenheit genährte Skepsis dem FC Wil gegenüber wird von den neuen Besitzern selbst grosszügig verstärkt. Verwaltungsrat und Geschäftsführer Abdullah Cila dirigiert den Klub inzwischen von der Türkei aus. Er wurde ausgewiesen wegen fehlender Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung. Dasselbe war im Juni schon Trainer Ugur Tütüneker widerfahren, der inzwischen nicht mehr im Amt ist: Nachdem in der Türkei im Zuge der Säuberungen nach dem Putschversuch ein Haftbefehl gegen Tütüneker erlassen worden war, war er seinen Job in Wil los.
Es ist nicht wärmer geworden im Bergholz. In der letzten Minute schiesst der FC Wil das fünfte Tor an diesem Sonntag. Doch es fragt sich, für wen. Worum handelt es sich bei diesem Verein? Worauf gründet seine Identität? Was wollen die tausend Leute sehen, die fast immer kommen, aber nie mehr werden? Talente aus der Region gross zu machen, davon verabschiedet sich der FC Wil gerade auf spektakuläre Weise. Und in der Halbzeitpause spielt der Bergholz-DJ den EM-Song von David Guetta. Der passt in seiner unangenehmen Beliebigkeit zur Wiler Mannschaft, die hier ohne jeden Lokalbezug auf einem Kunststoffteppich den Fussball der Grossen simuliert.
Im Frühling 2017 soll abgestimmt werden, wie es mit dem Bergholz im Südquartier weitergeht: Piratenspielplatz oder Champions League? In der Bahnhofsunterführung hängen derweil zwei grosse grün-weisse Plakate. Sie werben in attraktiver Bildsprache für den Kauf eines Saisonabos. Aber nicht beim FC Wil. Beim FC St. Gallen.