Türkisches Tagebuch: Wenn Prometheus das Feuer bringt
Ece Temelkuran über verbotene Wikipedia-Einträge
28. April: Die türkische Wahlbehörde hat den Antrag der grössten Oppositionspartei CHP zurückgewiesen, das Verfassungsreferendum für ungültig zu erklären. Ein mutiger Richter der Behörde hat seine abweichenden Erläuterungen jedoch publik gemacht. Auf zwölf Seiten bestätigt er neben vielen anderen Punkten ungleiche Voraussetzungen im Abstimmungskampf und die Verfassungswidrigkeit der Entscheidung, nicht gestempelte Stimmzettel gelten zu lassen. Die Abstimmung müsse annulliert werden, weil der Konflikt sonst «noch in den kommenden Generationen nicht beigelegt» sei, schreibt der Richter abschliessend.
Doch die CHP, von der erwartet wird, den Widerstand gegen die massiven Fälschungen zu organisieren, scheint das umstrittene Ergebnis der Abstimmung hinzunehmen, und spricht bereits von der nächsten Wahl. Als ob es eine nächste Wahl überhaupt gäbe – und selbst wenn: als ob sie dann fairer verlaufen würde.
29. April: Wenn von mir erwartet wird, in dieser Angelegenheit irgendwelche Gefühle zu entwickeln, weiss ich absolut nicht, wie ich mich fühlen soll: Ein «Fernsehkommentator» – bisher Präsident Recep Tayyip Erdogans skrupellosestes Sprachrohr –, der direkt für die Inhaftierung vieler JournalistInnen verantwortlich ist, weil er sie zur Zielscheibe machte, ist nun selbst zu einer geworden. Nach der psychologischen Abstimmungsniederlage für die AKP (alle wissen nun, dass Erdogan mit dem «knappen Sieg» nicht zufrieden ist) schiebt man sich in der Parteielite gegenseitig die Schuld zu. Was zuvor vielen JournalistInnen und Intellektuellen angetan wurde – sie wurden diskreditiert, verbannt, stigmatisiert –, widerfährt nun ihm selbst. Man könnte meinen, es macht dich irgendwie glücklich, wenn einer der bösen Jungs gleich behandelt wird. Doch das tut es nicht! Ich denke und fühle gar nichts.
30. April: In der Türkei wird Wikipedia dichtgemacht. Laut dem Juraprofessor Yaman Akdeniz stehen 90 000 Seiten auf einer schwarzen Liste. Doch wieso Wikipedia? Wie sich herausgestellt hat, wurde die Plattform wegen eines Eintrags verboten, der die Türkei als Unterstützerin des IS zeigt. Andere glauben, das Verbot sei Erdogans Präsenz auf einer Wikipedia-Liste geschuldet, auf der Präsidenten verzeichnet sind, die mal einen Putsch gegen sich selbst inszeniert haben.
Solche Neuigkeiten erstaunen das internationale Publikum viel mehr als die TürkInnen selbst. Sie wissen schon lange, dass sie einfach den Server wechseln müssen, um die verbotenen Seiten aufrufen zu können. Ich kenne sogar ein paar Kindermädchen, die inzwischen Internetakrobatinnen sind.
1. Mai: Im Zentrum der Auseinandersetzungen liegt wieder einmal der Taksimplatz. Historisch betrachtet war er schon immer das Symbol politischen Widerstands. Seit den siebziger Jahren beanspruchen die Gewerkschaften den Platz für sich, für die Feierlichkeiten am 1. Mai wurde er immer abwechselnd geschlossen oder geöffnet. Heute ist jede Kundgebung strikt untersagt.
Vor allem für Erdogan selbst ist der Taksimplatz von grosser Bedeutung. Im Anschluss an die Gezi-Proteste, die hier im Jahr 2013 ihren Anfang genommen hatten, reklamierte er den Ort für sich – auch nach dem gescheiterten Putsch vom vergangenen Juli. Seltsamerweise sprach er noch in der Putschnacht vom Gezi, obwohl das Thema rein gar nichts mit dem Putschversuch zu tun hatte.
Heute ist der Taksimplatz verwaist. Wie es sich für einen anständigen Platz in einem autoritären Regime gehört.
2. Mai: Präsident Erdogan kehrt als Mitglied in den Schoss seiner Partei zurück und macht das faktische Ein-Anführer-eine-Partei-Regime damit offiziell. Seit dem Referendum braucht der Präsident nicht mehr überparteilich zu sein. So kann Erdogan Partei und Land in Personalunion regieren. Seine Rückkehr in die Partei wird praktisch auf jedem türkischen TV-Sender live übertragen. «Als ob der verdammte Prometheus zurück in der Stadt wäre!», wie jemand auf Twitter schreibt.
Von Erdogan wird jetzt erwartet, dass er dem verbrauchten Parteiapparat neues Leben einhauchen kann und selbst zu einer noch stärkeren Figur wird.
Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt derzeit in Zagreb. Gerade ist ihr Roman «Stumme Schwäne» bei Hoffmann und Campe erschienen. An dieser Stelle führt Temelkuran bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.
Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.