Türkisches Tagebuch: Die Hungernden und die Witzfiguren
Ece Temelkuran über verzweifelten Protest in Ankara
11. Mai: In der türkischen Hauptstadt Ankara gibt es eine kleine, aber sehr bedeutende Strasse namens Yüksel Caddesi. Sie ist nur knapp fünfzig Meter lang und steht nur FussgängerInnen offen, und sie liegt nicht in einem für TouristInnen interessanten Stadtbezirk. Wobei sowieso keine TouristInnen nach Ankara kommen. Die Stadt ist bekannt für ihren Mangel an natürlicher Schönheit, und neuerdings ist Ankara zudem berühmt für seinen irren und extrem vulgären Bürgermeister Melih Gökcek, der riesige Statuen von Figuren aus Zeichentrickfilmen für Kunst hält. Er macht sich damit lustig über die Stadt, die das Symbol der säkularen Republik ist. Jedenfalls gibt es im Stadtzentrum eine kleine Strasse von grosser politischer Bedeutung. Jede Demonstration, jede Kundgebung in Ankara findet in dieser winzigen Strasse statt. An ihrem einen Ende steht eine Statue aus den frühen Neunzigern, «Das Menschenrechtsdenkmal», bei dem es sich um eine Frau handelt, die ein Buch liest. Seit dem 9. März ist die Statue der lesenden Frau Schauplatz des Hungerstreiks zweier junger Menschen.
Ihre Namen lauten Nuriye Gülmen und Semih Özakca. Nuriye Gülmen hat ihre Stelle an der Universität verloren, als nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 die Hexenjagd begann, die Zehntausende ihre Jobs gekostet hat. Wenn man in der heutigen Türkei seinen Arbeitsplatz aufgrund eines Regierungsdekrets verliert, bedeutet das, dass man zum Tod verurteilt ist, weil man keine Rechtsansprüche mehr stellen, keinen Pass beantragen und sich keinen neuen Job suchen kann und zudem als «Staatsfeind» stigmatisiert ist. Nuriye ist eine fortschrittliche Linke, genauso wie Semih Özakca, der seine Stelle als Grundschullehrer verloren hat. Ehe sie in den Hungerstreik getreten sind, hatten sie jeden Tag an derselben Stelle ein Plakat hochgehalten, auf dem zu lesen war: «Wir haben wegen des Regierungsdekrets unsere Jobs verloren. Wir wollen Gerechtigkeit.»
Der Sitzstreik währte 120 Tage, bis sie sich dann entschieden, in den Hungerstreik zu treten. Seitdem gab es zahllose Attacken der Polizei gegen sie. Heute ist Tag 64 des Hungerstreiks. Und heute ist auch der Tag, an dem die ÄrztInnen erklären, dass die beiden die ersten Symptome des Wernicke-Korsakow-Syndroms zeigen. Wer davon schon mal gehört hat, weiss vielleicht, dass das der Anfang des Endes ist. Selbst wenn sie jetzt den Hungerstreik abbrechen, ist die Chance gross, dass sie sich niemals mehr vollständig erholen. Sie könnten in einem Geisteszustand von Kleinkindern enden. Trotzdem kommen die beiden jeden Tag aufs Neue zur Statue der lesenden Frau, wo sie von ein paar UnterstützerInnen empfangen werden.
13. Mai: Die Polizei hat Nuriyes und Semihs kleine Ecke in der besagten Strasse angegriffen, an der Stelle, wo Leute Blumen niedergelegt haben. Warum nur glaubt die Polizei, Blumen angreifen zu müssen? Was kann einen zu so einer Attacke veranlassen? Derweil haben einige SchriftstellerInnen einen dringenden Aufruf gestartet, in dem gefordert wird, die beiden wieder in ihre Jobs zurückzulassen. Natürlich wird das zu nichts führen.
15. Mai: Ich wusste bislang nicht, dass Nuriye Gülmen Übersetzerin der Briefwechsel von Thomas Mann und Hermann Hesse sowie von Milena Jesenská und Franz Kafka ist. In der Zwischenzeit hat der Bürgermeister von Antalya ein lächerliches «Ding» geschaffen. Ich schreibe «Ding», weil ich nicht weiss, wie ich es sonst nennen soll. Der Bürgermeister hat ein traditionelles chinesisches Kostüm angezogen und gemeinsam mit einem als Shogun verkleideten Leibwächter posiert, um «ganz China zu grüssen». Der Hintergrund ist wohl das Ausbleiben von TouristInnen in der Region, weswegen der Bürgermeister sich vielleicht gedacht hat, dass er auf diese Weise BesucherInnen aus dem Fernen Osten anlocken kann, schliesslich ist es ja in China ziemlich überfüllt. Das Bild sieht aus wie ein Photoshop-Witz, ist es aber nicht. Gehen Sie bitte ins Internet und suchen Sie nach «Antalya valisi», Sie sollten das nicht verpassen. Nicht weil es witzig ist, sondern weil es zeigt, mit was für einem Irrsinn die Regierung Leute wie Nuriye und Semih ersetzen will.
Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt derzeit in Zagreb. Vor kurzem ist ihr Roman «Stumme Schwäne» bei Hoffmann und Campe erschienen. An dieser Stelle führt Temelkuran bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.
Aus dem Englischen von Daniel Hackbarth.