Türkisches Tagebuch: Ansteckende Courage
Ece Temelkuran über die Stimmen des Widerstands
12. Januar: Eine Frau mittleren Alters aus Izmir wird zum Star der sozialen Netzwerke. «Ich ertrage es nicht mehr. Gottverdammt! Dieses Land ist nach wie vor säkular. Ihr könnt das nicht ändern, okay?! Nein! Ihr werdet es nie können!», ruft sie in einem selbst aufgenommenen Video.
Für die Türkei werden die kommenden Wochen zum Testfall: Mit der Abstimmung über das Präsidialregime entscheidet sich, wie beharrlich der Einsatz für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sein wird. Seit der Gründung der Republik im Jahr 1923 hat es keine heftigere Attacke gegeben als diesen gewaltigen Angriff der konservativen und autoritären Kräfte. Vermutlich deshalb stehen die Frauen beim Widerstand an vorderster Front. Im Wissen darum, dass sich gerade ihr Alltag von Grund auf ändern wird, falls der Regimewechsel stattfindet, sind sie deutlich wütender als die Männer. Wer nicht in der Türkei lebt, bekommt dies nicht mit. In der internationalen Presse ist stets nur ein Gesicht zu sehen: das von Präsident Erdogan.
13. Januar: Der Gesetzgebungsmarathon geht Tag und Nacht weiter. Während einer der Abstimmungen hat ein Regierungsabgeordneter die oppositionelle Parlamentarierin Fatma Kaplan tätlich angegriffen. Im Internet veröffentlichte die Politikerin ein Foto mit Blutergüssen an ihrem Hals. Wenn eine Frau im Parlament nicht sicher ist – wie kann sie sich auf der Strasse sicher fühlen? Dafür hat ein Abgeordneter der Regierung erklärt, ein oppositioneller Parlamentarier habe ihn ins Bein gebissen. Wie voller Leidenschaft unsere Demokratie doch ist!
14. Januar: Suspendierte WissenschaftlerInnen haben angefangen, in öffentlichen Parks Vorlesungen abzuhalten. Sie hören damit nicht einmal auf, wenn es schneit. Dennoch sind sie nicht so sichtbar wie die UnterdrückerInnen und die Opfer. Denn Zeiten des Unheils bringen zwei Stereotype hervor: UnterdrückerIn und Opfer. Sie erzeugen sich gegenseitig und bedingen einander. Wer diesen Teufelskreis zu durchbrechen, die endlose Wiederholung zu beenden versucht, ist kaum sichtbar – es sei denn, am Ende lässt sich ein Erfolg verbuchen. Doch der einzige Weg, diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist eine dritte Position: die Stimme des Widerstands, sichtbarer und schliesslich mächtiger.
Die globale Presse passt sich langsam an die veränderten Bedingungen in der Weltpolitik an. Vielleicht ist nun die Zeit gekommen, sie an eine ihrer Kernaufgaben zu erinnern: die Stimmen des Widerstands sichtbarer werden zu lassen. Anderenfalls wird die Macht der globalen Medien dahinschmelzen – und zurück bleibt die paralysierende Dualität zwischen UnterdrückerInnen und Opfern.
16. Januar: Auf den Strassen und in den sozialen Medien werden die Stimmen des Widerstands gegen den drohenden Regimewechsel immer zahlreicher. Im Internet zirkuliert das Wort «Hayir» (Nein), immer mehr Widerstandshumor entsteht. Bei ihrem Spaziergang schreiben die Menschen «Nein» in den Schnee. Und ein Illustrator zeichnet eine fette Katze. «Nein zur ‹Das ganze Futter für eine Katze›-Politik» steht darunter. Das sind nicht einfach nur lustige Twitter-Meldungen – gerade entstehen neue Bewegungen. Mut ist so ansteckend wie Angst.
17. Januar: Manche sagen, dies sei nicht einfach ein Kampf um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern auch ein Zusammenprall verschiedener Wertesysteme. Das stimmt. Ein Psychologe wird getötet, weil er eine Behausung für Katzen gebaut hat, um die Tiere durch den Winter zu bringen. Ein Video ist in Umlauf: StudentInnen werden von einem konservativen Mann angegriffen, weil sie Tiere retten wollen. Derweil der Sinn fürs Gesetz verloren geht, kristallisiert sich ein Kampf zwischen dem Bösen und der Humanität heraus – hier Menschen, die Refugien für Katzen bauen, dort solche, die fähig sind, jemanden umzubringen, weil sie von einem Katzenhäuschen genervt sind. Man könnte meinen, es sei klar, wessen Seite man wählen müsste. Doch wenn das Unheil gedeiht, verschwimmen die menschlichen Werte.
Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.
Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.