Türkisches Tagebuch: Verschleierte Tragödien
Ece Temelkuran über politisierte Castingshows
13. März: Ich muss fast lachen, als ich die Worte eines Oppositionellen höre, den ich sehr respektiere. «Alle sollten aufpassen, der Regierung keinen Anlass für ihren Opferdiskurs zu liefern», sagt der Politiker in Bezug auf die Krise zwischen der Türkei und Europa.
Nun, wenn ihnen niemand den Anlass lieferte, würden sie ihn selbst erfinden. In Zeiten, in denen sich jeder zu Hause seine eigene Wahrheit zimmern kann, nutzen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung die Krise mit Europa, um ihre Macht zu konsolidieren und in der Türkei und bei der türkischen Diaspora im Ausland nationalistische Gefühle zu schüren.
14. März: TürkInnen in den Niederlanden erzählen den Medien, wie diese Krise ihr Leben zerstört hat. Wir durchlaufen gerade eine historische Phase, in der epische Kämpfe zu Tragödien des kleinen Mannes werden. Sie häufen sich in einer unglaublichen Geschwindigkeit, die globale Dumpfheit wird zur Regel. War es zu Zeiten des Vietnamkriegs ähnlich? Oder während des Bosnienkriegs? Immerhin konnten die Menschen noch Scham empfinden, wenn sie die Folgen humanitärer Katastrophen sahen. Statt die Tragödien abzubilden, verschleiern wir Schriftsteller und Journalistinnen sie heute jedoch.
Die Krise zwischen der Türkei und Europa habe den Anteil der Ja-Stimmen im Referendum erhöht, teilen die Behörden mit. Für die Regierung ist die Krise fruchtbar, was sie stolz verkündet.
15. März: Obwohl die Regierung für ihre Abstimmungskampagne auf Staatsgelder zurückgreift, wird jede noch so kleine Kampagne der Opposition entweder mit Gewalt oder durch Bürokratie behindert. So sagen die lokalen Behörden etwa eine Veranstaltung dreier Politikerinnen ab.
16. März: Ich stelle meinen neuen Roman, «Stumme Schwäne», beim Kölner Literaturfestival «lit.Cologne» und in Berlin vor. Hier beobachte ich ein neues Phänomen: Viele Türkinnen und Kurden sehen Deutschland seit Jahrzehnten als ihre «zweite Heimat». Die Kinder der ersten EinwanderInnengeneration sind heute erwachsen, einige verkehren in Intellektuellenkreisen. Nun kommen erneut türkische Intellektuelle nach Deutschland. Die Beziehung zwischen den beiden Gruppen ist angespannt. Diejenigen, die bereits in Deutschland leben, sind vom Umstand eingeschüchtert, dass die neuen politischen ExilantInnen leichter die soziale Leiter erklimmen, als sie selbst es früher konnten. Zugleich wollen die Neuankömmlinge nicht mit den Alteingesessenen in Verbindung gebracht werden. Es ist nicht zuletzt eine Klassenfrage.
19. März: Meine Mutter ist aus der Türkei angereist, um mich in Zagreb zu besuchen. Wir sehen uns zum ersten Mal seit einem halben Jahr. Am ersten Abend führen wir intensive Gespräche über Gott und die Welt, heute möchte sie türkisches Fernsehen schauen: das Finale einer Castingshow, die sie regelmässig verfolgt.
Zuerst mache ich mich noch über sie lustig, doch dann verstehe ich ihre politische Motivation. Dodan müsse gewinnen, sagt sie. Wir schauen gemeinsam die Sendung, und ich begreife, warum. Dodan ist ein gebildeter, bescheidener und extrem talentierter kurdischer Sänger, sein Rivale – eine Art Geistlicher – unterstützt offensichtlich die Regierung. Der politische Kontext ist klar, meine Mutter erklärt, die Boulevardpresse habe diesen auch schon verhandelt. In dem Bericht feierte Dodan die multikulturelle Türkei, während sein Gegner mit vorsichtig politischen Aussagen die Regierung unterstützte.
Meine Mutter und ich schliessen eine Wette ab: Ich sage, sie würden Dodan in einer derart angespannten politischen Situation niemals gewinnen lassen. Weil Dodan dann doch gewinnt, schulde ich meiner Mutter ein Abendessen.
Später sehe ich, dass viele PolitikerInnen ihrer Freude über den Sieg auf Twitter Ausdruck verleihen. In einem Land, in dem nicht frei gesprochen werden kann, wird sogar eine dämliche Castingshow zum politischen Raum. Wenn Dodan gewinnt, können auch wir das Referendum gewinnen, sagen sie. Ich weiss nicht, ob ich lachen oder weinen soll – ein Gefühl, das wir in der Türkei wunderbar verinnerlicht haben.
Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul und Zagreb. Gerade ist ihr Buch «Stumme Schwäne» bei Hoffmann und Campe erschienen. An dieser Stelle führt Temelkuran bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.
Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.