Türkisches Tagebuch: Ein Geisterschiff voller Monster

Nr. 24 –

Ece Temelkuran über katarisch-türkische Beziehungen

Als AKP-AnhängerInnen in den sozialen Medien letzte Woche virtuelle Blutsbrüderschaftsrituale veranstalteten, dachte ich, das Ende sei nun wirklich gekommen. Unser Anführer hatte beschlossen, sich ausgerechnet mit Katar eng anzufreunden. Nein, wir sind und waren ihnen nie verbunden. In keinem türkischen Herzen hat Katar einen besonderen Platz. Doch was nützt die Wahrheit, wenn nur eine unterdrückte Minderheit an ihr festhält?

Die Trolle der Regierung haben sich sofort einer neuen Erzählung angenommen, um die Truppenentsendung zu legitimieren. Ich verwette mein Leben darauf, dass in der jubelnden Masse niemand weiss, warum die türkische Armee in die Wüste geschickt wird. Doch man braucht nicht über die komplexe Politik im Nahen Osten nachzudenken, wenn dein «Chef» dir sagt, was du zu fühlen hast.

Wer steht am Steuer?

In der Türkei gibt es ein altes Volkslied mit dem Titel «Jemen», das wohl aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammt, als man osmanische Truppen in den Jemen schickte. Es ist ein Klagelied für diejenigen, die in diesen weit entfernten Ländern ihr Leben verloren haben. «Brichst du in den Jemen auf, kommst du niemals zurück», heisst es an einer Stelle.

«Sie schicken eure Söhne in den Jemen», schrieb ich also voller Schmerz auf Twitter – die Reaktion war erstaunlich: unzählige Beleidigungen, weil ich angeblich die aufrichtige Bruderschaft mit Katar nicht begreife. Haben sich die Massen einmal entschlossen, der Lüge zu glauben, lassen sie sich kaum vom Gegenteil überzeugen. Manchmal frage ich mich, warum wir die Leute weiterhin vor sich selbst zu retten versuchen, wenn sie sich im Namen der Dummheit zu opfern bereit sind.

Zwei Tage später tritt der Ministerpräsident live im Fernsehen auf. Aus einem unerklärlichen Grund schreibt er mit dem Finger das Wort «sevgili» (lieb) auf einen Touchscreen. Plötzlich hält er inne: «Wie schreibt man das noch mal?» Die Geschichte ist nicht erfunden! Tausende junge Männer müssen in die Wüste auf den Befehl von Leuten hin, die nicht einmal simple Wörter buchstabieren können. Nun, in ihrer «neuen Türkei» brauchen sie dieses Wort sowieso nicht.

Es fühlt sich an, als würde das Land zu den unerforschten Gewässern der Geschichte segeln wie ein Geisterschiff voller Orks, der Monster aus «Herr der Ringe». Ich bin weder sicher, ob jemand am Steuer steht, noch, ob jemand das Schiff überhaupt steuern will.

Ein verrückter Sommer

Viele haben ihr Leben angesichts des Wahnsinns im Land umgekrempelt, darunter auch meine Freundin Aysegül. Sie unterrichtet jetzt Yoga. Zwanzig Jahre lang hat sie als Anwältin gearbeitet, nun denkt sie: Warum sich weiterhin anstrengen, wenn es in diesem Land gar kein Justizsystem mehr gibt? Richter oder Richterin zu sein, sei inzwischen riskanter als Feuerwehrmann, sagte sie mir letztens am Telefon – und sprach mit noch grösserer Sorge über Yoga. «Was würde ich tun, wenn jemand meine Yogaklasse überfallen würde, weil er den Sport sündhaft findet? Wer würde mich schützen? Niemand! Eigentlich leben wir nicht, sondern befinden uns im Delirium.»

Der Sommer wird noch verrückter. Die AnhängerInnen der Regierung werden ihre Wut gegen diejenigen richten, die nicht in den Krieg ziehen wollen. Vermutlich sind wir inzwischen über das Ende hinausgeschossen. Denn das vergangene Jahr, geprägt vom gescheiterten Putsch, der Hexenjagd, die jede Opposition ausradierte, und schliesslich dem absurden Referendum, war der Beginn von ultimativem Chaos. Die Geschehnisse in der Türkei werden bald zu komplex sein. Vielleicht sind sie es dann nicht mehr wert, verfolgt zu werden. Doch diejenigen, die auf dem Schiff ohne Reiseroute ausschliesslich Orks erblicken, könnten falscher nicht liegen. Denn es gibt dort auch weiterhin Leute, die mit aller Kraft in Richtung klarer Gewässer paddeln. Die Frage ist nur: Wer hält länger durch?

Der Bogen der Geschichte neige sich zur Gerechtigkeit, hat Barack Obama einmal gesagt. Man möchte dieser Aussage glauben – vor allem wir, die wir aus diesem wunderbaren Land namens Türkei stammen.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt derzeit in Zagreb. Seit November 2016 führt Temelkuran ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei, das mit dieser Folge vorerst endet.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.