Abgestürzt: Aufrappeln und weitermachen

Nr. 39 –

Bundesrat Alain Berset ist mit seiner Rentenreform kolossal gescheitert. Die Rechte frohlockt. Stellt sich die Frage, wieviel Schnauf der erfolgsverwöhnte Freiburger noch hat.

Es ist Sonntagabend, das Stimmvolk hat entschieden, Alain Berset ist gescheitert. Neben ihm sitzt Bundesratskollege Johann Schneider-Ammann und hält eine seiner holprigen Reden, die in diesem Moment noch weniger interessieren als sonst. Alle Augen sind an dieser Pressekonferenz auf Berset gerichtet. Er wirkt niedergeschlagen. Man erahnt, was ihm gerade durch den Kopf geht: Sechs Jahre Arbeit für die Katz. Statt auf dem Zenit seiner Karriere steht Berset sechs Jahre nach seiner Wahl in den Bundesrat vor einem Scherbenhaufen. Doch Berset wirkt in diesem Moment auch hoch konzentriert. Kerzengerade sitzt er da, die Augen wandern ruhig im Saal auf und ab. Der Stratege weiss, dass es eine noch viel grössere Niederlage darstellen würde, sich in diesem Moment eine Blösse zu geben.

Politische Feinde, die genau darauf warten, hat Berset genug. Einen Tag nach der Abstimmung über die Altersvorsorge 2020 hat in Bern wieder der Sessionsalltag Einzug gehalten. Sebastian Frehner sitzt entspannt in einem Ledersessel und plaudert aus dem Nähkästchen. Der SVP-Nationalrat aus Basel gehört zu den Siegern dieses Wochenendes – es ist ein befriedigender Sieg, einer, mit dem Frehner und seine Mitstreiter nicht rechnen konnten, als sie im vergangenen Frühling düpiert zuschauen mussten, wie eine Mitte-links-Koalition die Reform ins Trockene brachte. Jetzt habe das Pendel halt zurückgeschlagen, sagt Frehner zufrieden. Er hat in diesen Tagen noch mehr Gründe, sich zu freuen: Ignazio Cassis ist in den Bundesrat eingezogen. Bei den Rechten weckt das die Hoffnung, dass sich die rechte Übermacht im Nationalrat endlich auch im Bundesrat niederschlägt. Nur ein Problem bleibt bestehen: «Wir müssen jetzt endlich die wichtigen Departemente besetzen», sagt Frehner. «Die Post geht im Innenministerium ab.»

Bereits vor dem Abstimmungssonntag hatte die SVP zum Angriff geblasen. Die Departementsverteilung dürfe erst nach der Abstimmung erfolgen, forderte Exparteichef Toni Brunner – vergeblich. Dass die Rechten Alain Berset von seinem Posten entfernen wollen, hat nicht nur mit den eigenen Aspirationen zu tun, sondern auch damit, dass die Qualitäten des SP-Bundesrats gefürchtet sind. «Alain Berset ist eine der wichtigsten Figuren in Bundesbern», sagt Frehner. «Er hat einen guten Auftritt, ist hochintelligent und ein äusserst guter Schachspieler. Und er hat eine klare Haltung, das respektiere ich. Wäre Alain Berset nicht links, er wäre vielleicht mein Lieblingsbundesrat.»

Extrem schnelle Auffassungsgabe

Weggefährten von links bis rechts sind sich einig: Berset sei nicht nur äusserst geschickt und weitsichtig, sondern auch sozialkompetent und extrem schnell darin, Situationen zu erfassen und zu analysieren. Diese Fähigkeiten haben den Freiburger in Rekordzeit nach oben katapultiert.

Begonnen hat Alain Bersets Geschichte in Belfaux, einem Dorf, das Solidität ausstrahlt wie Berset selbst, der hier aufgewachsen und nie weggezogen ist. Im Dorfkern von Belfaux sind die Mauern dick. Es gibt hier eine stattliche Kirche – und die beiden altehrwürdigen Gaststätten, die für die politischen Machtverhältnisse stehen. In der Auberge du Mouton versammeln sich seit jeher die ChristdemokratInnen, im «XIII Cantons» (heute ein mongolisches Restaurant) die SozialdemokratInnen. Berset stammt aus einer Familie, die beide Politclans vereint: Der Vater ist CVPler, seine Mutter, Solange Berset, entstammt einer SP-Dynastie und war lange nicht nur Gemeindepräsidentin von Belfaux, sondern auch im Freiburger Kantonsrat aktiv. Sohn Alain hat die beiden Leidenschaften seiner Familie übernommen: Politik und Sport. Kontaktiert man den Leichtathletikklub Belfaux, antwortet Mutter Berset, die den Verein präsidiert, höchstpersönlich. Und verweist einen an Frédéric Krauskopf, der als Jugendlicher mit Alain Berset im Verband trainierte: Staffellauf. Berset sei ein Teamplayer gewesen, erzählt dieser. Jemand, den man als Zwanzigjähriger gerne um sich gehabt habe. «Ich hätte damals seinen Weg nicht voraussagen können. Ihn hat seine Neugierde ausgezeichnet. Man konnte stundenlang über grundsätzliche Dinge wie das Gute und das Böse diskutieren. Er war aber auch immer schon bodenständig: Jemand, der im Dorfleben gelernt hat, verschiedenen Menschen zuzuhören und andere Meinungen zu akzeptieren.»

Nach der Matura studierte Alain Berset an der Universität Neuenburg Politikwissenschaften. Später hängte er ein Doktorat der Wirtschaftswissenschaften an. Mit nur 27 Jahren ernannte ihn der damalige Neuenburger Finanzdirektor Bernard Soguel zum strategischen Berater. Berset denke gerne gross, sagt er. Der Jungspund habe ihn beeindruckt mit seinen kreativen Lösungsansätzen – «etwa bei der kantonalen Steuerreform, die wir damals aufgleisten».

Christdemokratischer Habitus

Nach einem Engagement im Freiburger Verfassungsrat wurde Berset 2003 in den Ständerat gewählt. 2011, mit nur 39 Jahren, folgte die Wahl in den Bundesrat. Gross hat Berset auch bei der Altersreform gedacht. Alleine allerdings klügelte er seinen Plan, die erste und zweite Säule zu verknüpfen, nicht aus. Als Ständerat waren seine nächsten Vertrauten die Freiburger Parlamentarierkollegen Jean-François Steiert und Christian Levrat. Letzterer kennt Berset aus seiner Zeit im Freiburger Verfassungsrat. Bersets grösste Stärke, sagt er, sei die Fähigkeit zum moderaten Auftritt. «Berset hat einen christdemokratischen Habitus. Das lässt ihn weniger links wirken, als er eigentlich ist.» Berset, Steiert und Levrat teilten während ihrer gemeinsamen Parlamentszeit die Geschäfte unter sich auf. Berset war fürs Internationale zuständig – und für die Wirtschaft. «Als er in den Bundesrat gewählt wurde und das Gesundheits- und Sozialdepartement übernahm, liess er sich von mir briefen», sagt Steiert. «Er hat sich extrem schnell eingearbeitet.»

Verbündete fand Berset auch im St. Galler Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner oder den moderaten bürgerlichen Christine Egerszegi (FDP), Verena Diener (GLP) und Urs Schwaller (CVP). In ihrem gemeinsamen Buch «Changer d’ère» («Für ein neues Zeitalter») hatten sich Levrat und Berset für eine inhaltliche Mitte-links-Regierung ausgesprochen. In Bern wurden die Freiburger zu wichtigen Strippenziehern von Mitte-links-Allianzen, etwa bei der Abwahl Blochers – oder eben: der Rentenreform, die noch vor dem Rechtsrutsch bei den Wahlen 2015 erste Hürden nahm.

Den Rechten versetzten sie damit schmerzhafte Stiche. «Es ist gut, hat das Freiburger Machtkartell wieder einmal verloren», sagt Sebastian Frehner. «Berset hat sich diesmal verkalkuliert. Er hat ein Hochrisikospiel gespielt, indem er nur auf den Ständeratskompromiss setzte. Berset hat die geeint kämpfenden FDP und SVP unterschätzt.»

Die Luft wird dünn

Tatsächlich: Berset war siegessicher angetreten. Vielleicht zu siegessicher. Daran gewöhnt, mit seinen Strategien zu überzeugen. «Die Niederlage wird ihn sehr ärgern», sagt Weggefährte Jean-François Steiert. Doch sei Berset nicht der Typ, der sich von so etwas in den Boden hämmern lasse. «Er wird sich aufrappeln und weitermachen.» Berset wird nach dieser Abstimmung ein rauerer Wind entgegenblasen. Zumindest bis zu den nächsten Wahlen ist die Rechte gestärkt, die Luft für die linken Taktierer wird dünner, Bersets Spielraum kleiner. Nach seinem steilen Aufstieg steht der Freiburger erstmals wirklich an. Anmerken lässt sich Berset diesen Frust aber nicht. «Ich bin enttäuscht», sagt er an der Pressekonferenz, «aber topmotiviert.»