«Die anderen 68er» in der Schweiz: Wo Progressives zu Kaugummi wird
Auch an der Universität Zürich protestierten 1968 die StudentInnen. Unter ihnen eine kleine bürgerliche Truppe, die den Studenten-Ring gegen links in Anschlag brachte. Doch waren sie die oppositionelle Avantgarde, als die sich drei ihrer Vertreter heute darstellen?
«1968, fünfzig Jahre Gift für die Uni». Mit diesem Slogan auf einem langen Banner protestierte im Juni 2018 die rechtsextreme Identitäre Bewegung vor der Universität in Halle. Eine besondere Gruppe Achtundsechziger aus der Schweiz dürfte diesen Slogan euphorisch teilen: «Die anderen 68er», unter ihnen Sinologe Harro von Senger, Rechtsanwalt Valentin Landmann, Altbundesrat Christoph Blocher oder Ex-NZZ-Redaktor Andreas Honegger. Sie operieren in einem anderen Referenzrahmen als die Identitären, stehen in ihrer Kritik aber in derselben Tradition. Dass sie die Chiffre 1968 in ihre Selbstbezeichnung integrieren, weist auf die paradoxe Übernahme linker Strategien und Termini hin – Gift hin oder her.
Der Bruch mit der bestehenden politischen Kultur, die Subversion, ein neues Lebensgefühl – das sind Themen, die heute zusehends die Rechte bewegen. Mit ihrem jüngst erschienenen Buch «Die anderen 68er» unternehmen von Senger, Landmann und Peter Wiesendanger nichts weniger als den Versuch, sich selbst als Avantgarde darzustellen, die der Neuen Linken bereits 1968 die Deutungshoheit über das Progressive zu entreissen vermochte – und sei es nur in Zürich.
Subversiv agierender Studenten-Ring
Gekapert hätten sie insbesondere das angeblich von den Linken stammende Kaugummimodell: Es verglich die Masse der Bevölkerung mit einem Kaugummiklumpen, der an einer Unterlage festklebt, und sah es als Aufgabe der Avantgarde an, den Kaugummi an einer Stelle zu packen und in eine politische Richtung zu ziehen, ohne dass dabei der Kontakt abreisst. Die drei Autoren erwähnen das Kaugummimodell gleich mehrmals, um herauszustreichen, dass man den «totalitären» JüngerInnen der «Zauberlehrlinge» Adorno und Co. nicht die Deutungshoheit habe überlassen wollen.
Harro von Senger gründete um 1968 an der Universität Zürich den Studenten-Ring, der konservative Werte, eine liberale Wirtschaftsordnung und die spezifisch schweizerische Ausprägung der Demokratie verteidigte. Fungierte er damals eher als Strippenzieher im Hintergrund, mauserte sich von Senger später zum Vorzeigeintellektuellen: Als Experte von Sinomarxismus und chinesischer Strategemkunde focht er eine «westliche» Auslegung der Menschenrechte an und entwendete dabei auch gleich die einst linke Kritik am «eurozentristischen» Denken.
Ähnlich schwer greifbar ist Valentin Landmann, Staranwalt von so unterschiedlichen Randgruppen wie den Hells Angels, Neonazis und Sexarbeiterinnen. Vor kurzem schloss er sich zum zweiten Mal der SVP an, nächstes Jahr will er für die rechtspopulistische Partei kandidieren.
Was die politisch unterschiedlich gelagerten Mitglieder des Studenten-Rings 1968 einte, war also der Kampf gegen die emanzipatorische Linke. Und die versuchte man mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Die Autoren brüsten sich insbesondere mit ihren «Gegenflugblatt»-Aktionen, die vom Direktor der schweizerischen Hagelversicherung finanziert wurden. Die Flugblätter operierten mit dem Mittel ironischer Überaffirmation: Der Aufruf, die Studentenzeitung «vom Gängelband der schweizerischen Marionetten des US-Imperialismus» zu befreien, war mit «Projektgruppe Kritischer Kommunismus» unterschrieben.
Mit solcherlei Aktionen verzeichnete der Studenten-Ring verschiedene universitätspolitische Erfolge. So erlangte er in einer Urabstimmung vorübergehend eine Mehrheit im Kleinen Studentenrat. In einer weiteren Urabstimmung überzeugten Studenten-Ring-Vertreter die Studierenden, dem linken Studentenrat ein Mandat zu weltpolitischen Fragen zu verwehren – konkret ging es um einen Beitrag von tausend Franken für medizinische Hilfe an den Vietcong.
Sich selbst zeichnen die Autoren ex post als die wahren Progressiven, als die tatsächlich Sozialen gar, hätten sie doch mit «konkreten» Projekten humanistische Anliegen vorangetrieben. Landmann forderte Kinderkrippen an der Uni, man organisierte – es blieb bei diesem einen Mal – ein Konzert mit einer Singer-Songwriterin. Der Studenten-Ring organisierte die erste Ringvorlesung zum Thema Umweltschutz, heftete sich so das Label «Zivilisationskritiker» an und warf sich verbal für ein harmonisches Miteinander einer pflanzlich-tierisch-menschlichen Gemeinschaft in die Bresche – wohlgemerkt «ohne Rücksicht auf irgendwelche Gesellschaftssysteme». Als ob seine Mitglieder nicht selbst einer Ideologie verpflichtet gewesen wären.
Als Vorzeigebeispiel ihres damaligen humanistischen Engagements dient den Autoren Peter Fuchs, der später zum Generaldirektor des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes aufsteigen sollte. Just in dessen Wortwahl zeigt sich indes, dass der Studenten-Ring auch mit rechtsnationalistischen Überzeugungen kokettierte: «Die grösste Gefahr für das Abendland droht aus der dritten Welt, wo Millionen von Menschen hungern und entsetzlich leiden. Sobald sie können, werden sie sich mehr Raum verschaffen, sie werden losschlagen.» Wenn Wiesendanger im Buch die visionäre Kraft dieser Aussage lobt, entlarvt er damit seine soziale Einstellung gleich selbst: Die Leidenden, so schreibt er in Bezug auf heute, würden jetzt zwar nicht losschlagen, aber loslaufen, was letztlich auf das Gleiche herauskomme.
Vorgeschobene Bescheidenheit
Immer wieder rühmen sich die Autoren ihrer «subversiven Aktionen» und «Guerilla-Taktiken». Nicht ganz einig sind sie sich, wer denn nun erfolgreicher den «Marsch durch die Institutionen» gegangen ist: die Linken mit ihrer «Sex-Aufklärung im Kindergarten», ihren «Genderquoten» und «Therapie-Knästen»? Oder sie, die die Schweizer Bevölkerung aus der «geistigen Enge» des «linken Establishments» befreit haben sollen?
Eigentlich ist die vorgeschobene Bescheidenheit hier fehl am Platz, war der gesellschaftliche Aufstieg doch schon immer erklärtes Ziel: Kennengelernt hatten sich viele Mitglieder des Studenten-Rings über die patriotisch-bürgerliche Studentenverbindung Zofingia, die für viele Zöglinge aus bildungsbürgerlichen Familien als Kaderschmiede fungierte, sie später also in einflussreiche Positionen in Politik und Wirtschaft hievte.
Die persönliche Karriere und mit ihr der gesellschaftliche Einfluss scheinen auch das verbindende Element zu sein, das die «anderen 68er» mit den linken «Überläufern» im neoliberalen Lager teilen. Zu Letzteren zählt Thomas Held, Galionsfigur der linken Achtundsechziger in Zürich, der später zum Direktor des Thinktanks Avenir Suisse avancierte und 2008 gegenüber dem «Magazin» des «Tages-Anzeigers» zu erkennen gab, dass auch er sich noch immer als «progressiv» sehe, die Linken jedoch als «rot-grüne Konservative» betrachte.
Der Definitionskampf geht weiter
Auch wenn sich kaum 68er-Linke aus Zürich finden lassen, die sich überhaupt noch an die selbsternannten «anderen 68er» erinnern: Die aktuelle Entwicklung spielt diesen historischen Selbstermächtigern in die Hände, bringt sich die Rechte heute doch tatsächlich in die Monopolstellung des «gesellschaftlichen Aufbruchs», während sich die Linke immer wieder als Verteidigerin des Systems wiederfindet.
Inzwischen grassieren in der ehemaligen Sowjetunion autoritäre Nationalismen, China wurde kapitalistischer, als es der Westen je erträumen konnte, grosse soziale Gegenentwürfe, die Bürgerliche das Fürchten lehren könnten, fehlen. Geblieben sind aber als Feindbilder die aufbegehrenden Leidenden der Welt im herbeifabulierten «Aussen» wie auch die diffuse Chiffre 1968, deren Geister noch immer an den Unis vermutet werden.