Lockdown – der Covid-19-Krimi (Teil 4): Das Klacken hinterm Zaun

Nr. 15 –

Vera Brandstetter fühlt sich nicht willkommen, als sie am Eisenzaun eine Raucherin antrifft. Doch immerhin erfährt die Kriminalpolizistin, wonach sie als Nächstes suchen muss: nach einer Gartenlaube.

Wieder keine Reaktion. Brandstetter trat von den Klingeln zurück und schaute zu den Balkonen hinauf. Sie sah: nichts. Sie hörte: Kindergeschrei, eine Frauenstimme aus dem Radio, den Bus eine Querstrasse weiter, ein gleichförmiges Klacken. Gedämpft, aber deutlich: klack, klack, klack.

Sie folgte dem Geräusch in den Durchgang zwischen den Häusern, ging an den Briefkästen und dem Eingang des Nachbarhauses vorbei. Ein Gitter versperrte den Zugang zum Hof. Das Klacken hörte auf. Brandstetter drückte die Klinke der Gittertür hinunter: abgeschlossen. Sie schaute in einen typischen Hinterhof dieses Viertels. Eine Menge Velos und ein paar Autos standen auf dem Kiesboden. Drei Häuser auf jeder Seite, links eine Zufahrt, rechts ein Garten. Der war nicht typisch. Ein richtig grosser, schöner Garten, mit einem Kirschbaum, einem grossen runden Blechtisch, einem Grill und Beeten. Der Garten war so lang wie das Haus, in dem Frieda wohnte, und ragte bis in die Hälfte des Hofs, eingefriedet von einem spitzen Eisenzaun. Das Klacken setzte wieder ein.

«Hallo, ist da jemand?», rief Brandstetter, die nur einen Teil des Gartens einsehen konnte. Das Klacken stoppte.

«Was ist los?», fragte eine heisere Stimme.

«Ich würde gern wissen, wo Frieda ist.»

«Ich nicht.» Das Klacken hob wieder an.

«Hallo? Bitte, darf ich schnell hereinkommen?»

«Nein.» Klack, klack, klack.

Fast hätte Brandstetter gerufen: «Machen Sie auf, ich bin Polizistin», doch dachte sie an den Clinch, in dem Frieda mit der Polizei lag.

«Können Sie schnell herkommen?»

«Muss das sein?»

«Vielleicht ist ihr etwas zugestossen.» Das Klacken hörte auf. Es war still, die Frau aus dem Radio verlas eine Spur zu begeistert die aktuellen Verkehrsinformationen: Alles ruhig auf den Strassen. Brandstetter erschrak, als von rechts, aus dem toten Winkel, ein Gesicht Zentimeter vor ihrem auftauchte.

«Wer sind Sie? Was wollen Sie?» Die heisere Stimme gehörte einer Frau, die keine eins siebzig gross war, etwa gleich alt wie Frieda, schwer zu schätzen. Das Gesicht war wettergegerbt, runzlig, gebräunt, die Augen etwas zusammengekniffen, halb verdeckt von einer verblichenen, hellblauen Schirmmütze.

«Ich wohne schräg gegenüber. Ich habe Frieda seit Ausbruch der Krise nicht mehr gesehen. Wissen Sie, wo sie ist?»

«Nein.» Die Frau hinter dem Gitter, die einen roten Overall trug und sich auf eine Hacke stützte, grinste. Sie führte eine selbstgedrehte, erloschene Zigarette zum Mund und zündete sie mit einem Feuerzeug an. Brandstetter zog eine ihrer Filterzigaretten hervor und bat um Feuer. Rauchen verbindet. Die Hand mit dem Feuerzeug kam durch das Gitter.

«Sie ist Krankenschwester …»

«Pflegefachfrau», korrigierte die Alte.

«Ist sie irgendwo im Einsatz? Kommt sie zwischendurch heim?»

«Weiss nicht. Ich wohne zuoberst.»

«Ist das Ihr Garten?»

Die Frau zog an ihrer Zigarette. Es roch nach Hanf.

«Der Garten gehört zum Haus.»

«War Frieda in letzter Zeit im Garten?»

«Nein, die ist nie hier unten, die hat einen eigenen Garten, bei ihrer Datscha.»

«Ihrer was?»

Ein heiseres Lachen, das in Husten umschlug. Brandstetter wich zurück, ihr Abstand war weniger als zwei Meter.

«Zu einem Stalin gehört eine Datscha. Das ist russisch und heisst so viel wie Gartenlaube.»

«Wo befindet sich diese Laube?»

«Ich war schon ewig nicht mehr dort. Sie steht auf dem Land eines Bauern.» Die Frau im roten Overall erklärte, wo die Hütte zu finden war.

«Hannah? Mit wem redest du?», donnerte eine Stimme von oben. Sie kam Brandstetter bekannt vor.

«Halts Maul, Theo!»

«Ist das die Frau, die in unser Haus eingedrungen ist? Lass sie nicht rein.»

Resigniert nahm die Frau einen tiefen Zug, hielt den Atem an, schüttelte den Kopf und war verschwunden.

«Warten Sie bitte …»

Die Stimme von oben: «Hau ab! Und zwar plötzlich!»

«Halts Maul, Theo!», schrie Brandstetter und schnippte ihre Zigarette durch das Gitter in den Garten.

Zu Hause klappte sie den Computer auf und loggte sich ins Polizeisystem ein. Sie schickte Friedas Personalien an alle Krankenhäuser und Pflegeheime. Sie googelte erst «Stalin», dann suchte sie mit der Kartenfunktion die Datscha. Es kam nur eine infrage.

Sie hätte den Bauern herausfinden und anrufen können, beschloss aber, selber vorbeizuschauen. Eine gute Gelegenheit, hinauszukommen und in den Wald zu gehen. Heute war es allerdings zu spät. Per Skype rief sie Thorsten an. Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde sie von einem Gesicht erschreckt. Ihr Freund verwandelte sich zusehends in einen Troll mit seinen wuchernden roten Haaren und dem roten Bart.

«Schon Feierabend?», fragte er. Sie nickte. Er verschwand, und auch sie ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Während sie ein einheimisches Lager trank, war Thorsten dabei, seinen Vorrat an Craft-Bieren aufzubrauchen. Seit einer Woche tranken sie ihr Feierabendbier auf diese Weise zusammen. Obwohl nur sie es war, die Feierabend hatte. Vor drei Tagen war es dann auch nicht bei einem geblieben. Und auch nicht beim Biertrinken.

Dies ist der 4. Teil des Covid-19-Krimi «Lockdown». Den 1., 2., 3., 5., 6., 7., 8., 9. und 10. Teil lesen Sie hier:
Lockdown (1): Der leere Balkon
Lockdown (2): Wo ist Frieda?
Lockdown (3): Keine Party, keine Dealer
Lockdown (5): Die Frau auf dem Phantombild
Lockdown (6): «Homeoffice, das ist doch ein Witz»
Lockdown (7): Zeit für die Kavallerie
Lockdown (8): Als die Einkaufstüte riss
Lockdown (9): Uralte Statuten
Lockdown (10): Ach, die lieben NachbarInnen