Lockdown – Der Covid-19-Krimi (Teil 5): Die Frau auf dem Phantombild
Kriminalpolizistin Vera Brandstetter verbindet das Notwendige mit dem Nützlichen. Sie ermittelt joggend und kommt so auch in ihrem Fall einen Schritt weiter.
Ich roste ein, sagte sich Vera Brandstetter. Wenn ich schon in den Wald muss, könnte ich wenigstens joggen gehen.
Normalerweise ging sie dreimal die Woche ins Fitness, dazu kam das Nahkampftraining bei der Polizei, das sie alle zwei Wochen leitete. Fiel zurzeit alles aus. Also Joggen. Sie hasste Joggen. Sie zog ihre teuren Schweizer Turnschuhe an, die fürs Rennen gemacht waren. Wie auf Wolken, versprach die Werbung. Warum man auf Wolken herumrennen sollte, fragte sich Brandstetter und stellte sich vor, dass sie dabei bis zu den Knien einsinken würde, wie in weichen, frisch gefallenen Schnee. Trotzdem zog sie die Schuhe an, dazu ein Paar graue Leggins und ein blaues, langärmliges Shirt. Die Tage wurden zusehends wärmer, am Morgen war es aber immer noch kühl. Sie hatte Friedas Hütte auf Google Maps markiert und überprüfte, ob der Pin auch auf dem Handy zu sehen war. Die Datscha lag nur etwa zwei Kilometer von der Stelle entfernt, an der die tote Frau gefunden worden war, die laut einem anonymen Mail Valeria Budai hiess und aus Ungarn stammte. Brandstetter packte einige der Ausdrucke mit dem Phantombild der Toten in ihre Handtasche. Zu Fuss ging sie zur Hauptwache, wo sie einen Dienstwagen reserviert hatte.
Der Parkplatz am Waldrand war voll, sie musste ihn zweimal umrunden, ehe sie eine Lücke fand. Beim Automaten, an dem sie ihr Parkticket löste, hängte sie einen Steckbrief auf, ebenso an der gegenüberliegenden Busstation.
Langsam trabte sie los, eine lange Gerade zwischen Äckern und Wiesen. Sie wich drei Hündelerinnen aus, die nebeneinanderher marschierten und keine Anstalten machten, zur Seite zu gehen. Es war ihr Territorium. Brandstetter verirrte sich nur selten auf diese Seite der Stadt, wo die besseren Viertel in die reichen Vororte übergingen. Die Stelle, an der die Tote gefunden worden war, lag weiter oben, knapp vor der Stadtgrenze, Friedas Datscha in der Nachbargemeinde, ungefähr auf der gleichen Höhe. Im Wald verteilten sich die Leute etwas besser. Wer keinen Hund hatte, joggte, bikte oder turnte auf den Vita-Parcours-Geräten herum. Neujahrsvorsätze der letzten zehn Jahre wurden eingelöst. Brandstetter wusste wieder, warum sie den Stepper im Fitnesscenter bevorzugte, der über einen Bildschirm verfügte, auf dem sie während des Trainings ausgesuchte Trash-TV-Sendungen schauen konnte.
Endlich erreichte sie den Bauernhof, der so gar nicht in diesen noblen Vorort passte. Wären die umliegenden Felder und Weiden Bauland, sie wären Millionen wert. Zweimal rief sie laut: «Hallo!» Keine Antwort. In einiger Distanz sah sie einen roten Traktor über ein Feld fahren. Wahrscheinlich waren die Leute an der Arbeit, Landwirtschaft war systemrelevant.
Oben am Waldrand stand das braun gebeizte Häuschen mit den roten Fensterläden, die geschlossen waren. Brandstetter fand einen Trampelpfad, der nicht aussah, als sei er in letzter Zeit begangen worden. Sie klopfte an die Tür und rief Friedas Namen. Niemand da. Der Garten war noch immer eingewintert. Den Ausflug hätte sie sich sparen können.
Den Waldrand entlang joggte sie auf den Weg zurück. Ein Silberbart in einem hautengen, schwarz-neongelben Kombi überholte sie keuchend, ohne den Abstand einzuhalten. Ein anderer joggte einen ganzen Streckenabschnitt im selben Abstand hinter ihr her. Vielleicht hätte sie doch die schlabbrige Trainerhose anziehen sollen, dachte sie und konzentrierte sich aufs Ausweichen: einem Ehepaar mit Nordic-Walking-Stöcken, zwei Mountainbikern, die nicht wussten, wozu der Lenker am Velo diente, unzähligen Hunden, ein paar Kinderwagen. Es war etwas los im Wald.
Verschwitzt erreichte sie den Parkplatz. Auf dem letzten Streckenabschnitt, der in der Sonne lag, war es richtig warm geworden. Vor dem Parkticketautomaten stand ein kleiner Junge, er war höchstens drei und schaute das Plakat an, das sie aufgehängt hatte. «Vali», hörte sie ihn sagen, als sie schon an ihm vorbei war. Brandstetter drehte sich um.
«Kennst du die Frau?» Der Bub schaute sie an.
«Finn, komm endlich!» Drei Autos weiter stand eine blonde Frau neben einem etwa achtjährigen Mädchen vor einem schwarzen Range Rover. Im Heck sass ein noch blonderer Hund, die Klappe stand offen.
«Ich bringe dich zu deiner Mutter.» Brandstetter wollte dem Buben die Hand geben, da stand die Frau schon vor ihr. «Hände weg von meinem Sohn!»
Brandstetter wich zurück und zeigte auf das Phantombild: «Kennen Sie diese Frau?» Die Blonde war geschminkt und trug Schmuck. Am Haaransatz war ein dunkles Braun zu sehen. Die Coiffeursalons waren geschlossen. Ohne hinzuschauen, schüttelte sie den Kopf. «Vali!» Der Bub zeigte auf das Bild. Die Mutter zerrte ihn weg.
«Bitte, es ist wichtig.» Brandstetter stellte sich ihr in den Weg.
«Ich kenne die Frau nicht, lassen Sie uns in Ruhe.» Die Frau sprach mit rollendem R. Sie war gewohnt zu befehlen.
«Vera Brandstetter, Kriminalpolizei. Schauen Sie sich das Bild an.»
Einen Moment zögerte die Mutter. Seit der Krise war der Respekt vor Amtspersonen gestiegen. Anweisungen wurden befolgt und nicht als blosse Vorschläge interpretiert. Doch der Anspruch, zu der Kaste zu gehören, die Gesetze machte, nicht befolgte, setzte sich durch, und die Frau zog den Buben zum Auto. Brandstetter sprintete zu ihrem Wagen, riss die Tür auf und zog ihren Ausweis und einen der Steckbriefe aus der Handtasche, in der auch die Dienstwaffe lag.
Die Blonde hatte hastig ihre Kinder auf die Sitze gepackt, dass Heck geschlossen und war ins Auto gehechtet. Die Tür knallte zu, Brandstetter drückte ihren Ausweis gegen die Scheibe.
«Polizei, machen Sie auf! Sofort!» Langsam ging das Fenster hinunter. Ein paar Leute waren stehen geblieben.
«Es geht um einen Mordfall. Ich habe Sie etwas gefragt.» Brandstetter streckte das Bild durch das Fenster. «Ihr Sohn kennt diese Frau. Ich muss wissen, wer sie ist. Verstanden?» Die Unterlippe der Frau zitterte, der Hund bellte, der Bub begann zu weinen.
«Das ist Vali», rief das Mädchen, das hinter dem Fahrersitz sass.
«Woher kennst du sie?»
«Das ist die Nanny von Esmeralda.»
Als der Range Rover abfuhr, hatte Brandstetter eine Adresse in der angrenzenden Gemeinde. Zuerst aber musste sie duschen und sich umziehen.
«Sind Sie von der Polizei?»
Ein bärtiger Mann von etwa vierzig Jahren stand zu dicht hinter ihr. «Sie», fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. «Da hinten bei der Feuerstelle sitzt eine Grossfamilie. Das sind über fünf Personen, und die Grossmutter gehört zur Risikogruppe. Sie halten den Abstand nicht ein. Das geht doch nicht.»
«Die Kollegen sind schon unterwegs», sagte Brandstetter freundlich und fuhr davon.
Dies ist der 5. Teil des Covid-19-Krimi «Lockdown». Den 1., 2., 3., 4., 6., 7., 8., 9. und 10. Teil lesen Sie hier:
Lockdown (1): Der leere Balkon
Lockdown (2): Wo ist Frieda?
Lockdown (3): Keine Party, keine Dealer
Lockdown (4): Das Klacken hinterm Zaun
Lockdown (6): «Homeoffice, das ist doch ein Witz»
Lockdown (7): Zeit für die Kavallerie
Lockdown (8): Als die Einkaufstüte riss
Lockdown (9): Uralte Statuten
Lockdown (10): Ach, die lieben NachbarInnen