Lockdown – Der Covid-19-Krimi 
(Teil 10 / Finale): Ach, die lieben NachbarInnen

Nr. 21 –

Bei der Spurensuche im Garten wundert sich die Kriminalpolizistin Vera Brandstetter über die Kompostiergewohnheiten moderner Grossstädter – und plötzlich kommts zum Showdown.

Brandstetter verliess die Wohnung und ging in den dritten Stock hinauf. Sie läutete. Keine Reaktion. Sie versuchte die Klinke. Abgeschlossen. Sie klopfte und rief. Von drinnen war nichts zu hören.

Langsam stieg sie die Treppe wieder hinunter, achtete auf jedes Geräusch. Das Haus war still. Sie ging in den Keller. Rechts die Lattenrostabteile, links war die Waschküche. In der Ecke lag ein Haufen bunter Kleider. Brandstetter roch an ihnen, sie waren ungewaschen und muffig, lagen wohl schon länger herum. Sie ging hinauf zum Hinterausgang und betrat den Garten.

Neben der Tür lehnte eine Hacke, der Grill sah frisch geputzt, aber ungenutzt aus. Die erste Grillparty stand noch aus. Der Garten hatte unter der langen Trockenheit nicht gelitten, er wirkte gepflegt, die Sträucher und Büsche wucherten üppig, der Kirschbaum war bereits verblüht. Nur auf einem schmalen Beet war die Erde vertrocknet, und es wollte nichts wachsen. Zuhinterst ein länglicher, mit einer grünen Plastikfolie abgedeckter Haufen, der Kompost, wie Brandstetter vermutete, die sich nicht fürs Gärtnern interessierte. Rechts an der Wand stand ein altmodischer kleiner Geräteschrank, der nicht verschlossen war. Pickel, Schaufel, Spaten, eine dieser Krallen, mit denen sich der Boden lockern liess. Alles ziemlich dreckig. Sie griff nach dem Spaten und begann, im vertrockneten Beet zu graben. Die oberste Erdschicht war locker, aufgeweicht von den Regenfällen der letzten Tage. Darunter war der Boden hart. Zu hart. Brandstetter wusste, dass der Streit in der Waschküche eskaliert war und Frieda seitdem nicht mehr gesehen wurde. Sie musste an Valeria denken, die notdürftig vergraben worden war, weil es eben gar nicht so leicht ist, ein Loch auszuheben, in dem ein Mensch Platz hat.

Mit dem Jackenärmel wischte sie sich über die Stirn. Der Komposthaufen stank vor sich hin. Sie fragte sich, wieso die Leute das in Kauf nahmen, für ein paar Tomaten und Johannisbeeren. Gab es heute nicht zweckmässige Plastikboxen, in denen mehr oder weniger geruchsfrei kompostiert werden konnte?

Sie räumte die Steine weg, mit denen die Folie beschwert war, und klappte sie zurück. Es war kein Kompost-, sondern ein veritabler Misthaufen, wie auf einem Bauernhof. Wie kam der hierher mitten in die Stadt? Sie begann, ihn mit dem Spaten abzudecken.

Der Kiesboden hinter ihr knirschte fast unhörbar, sie fuhr herum und wurde seitlich am Kopf getroffen. Brandstetter sank in die Knie. Die Hacke sirrte durch die Luft. Sie warf sich zur Seite und packte mit beiden Armen die Beine, die hinter ihr standen, der Schlag traf sie an der Schulter. Sie zog die Beine weg. Ein spitzer Schrei, ein Aufprall, Brandstetter rappelte sich hoch und stürzte sich auf ihre Angreiferin.

Es war nicht schwer, die kleine Frau festzuhalten, die am Boden lag, doch die wehrte sich beharrlich, und als sie spürte, dass sie keine Chance hatte, spuckte sie Brandstetter ins Gesicht. Zum Glück hatte Brandstetter solche Situationen trainiert und ihre Impulse unter Kontrolle.

«Was soll das? Wollen Sie mich auch umbringen? Mich könnten Sie nicht einfach verschwinden lassen. Ich bin Polizistin.»

«Scheissbulle!», zischte Hannah. «Ausgerechnet du musst dich für Frieda interessieren!»

«Hallo, was ist los hier?»

Mark, das Baby im Arm, stand am Zaun, Simone kam mit dem Buben und dem Mädchen in den Hof.

«Sie? Soll ich die Sanität rufen?»

Erst jetzt merkte Brandstetter, dass Blut ihren Hals hinunterrann.

«Nein, alles in Ordnung, gehen Sie in die Wohnung.»

«Warum kämpft die Frau mit Hannah?», fragte das Mädchen. «Warum blutet sie?»

«Bitte, geht hinauf.»

Widerwillig drückte sich die Familie durch den Hintereingang.

Brandstetter fixierte Hannah und zog ihr Handy hervor. Nach knapp zehn Minuten kam ein Kastenwagen, in den Hannah verfrachtet wurde. Wenig später fuhren die Spurensicherung und der Leichenwagen auf den Hof. Der Garten wurde abgesperrt. Sie wartete, bis die Leiche geborgen war, ehe sie sich verarzten liess.

Nach zwei Wochen U-Haft gestand Hannah, ihre Nachbarin nach einem heftigen Streit in der Waschküche gewürgt zu haben, aber nur, um sie zum Schweigen zu bringen. Erst als Frieda nicht mehr aufgestanden sei, sei ihr klar geworden, was sie angerichtet habe. Wie von Brandstetter vermutet, versuchte sie zuerst, die Leiche im Garten zu vergraben, und warf sie dann auf den Misthaufen. Den liess Hannah jeden Frühling von einem Bauern herbeikarren. Die NachbarInnen hatten sich irgendwann an die Geruchsemissionen gewöhnt und den Widerstand aufgegeben. Dass der Mist dieses Jahr anders roch, war offenbar nicht weiter aufgefallen.

Die Leute im Haus behaupteten, von nichts gewusst zu haben, aber Brandstetter glaubte nicht daran. Es war kaum vorstellbar, dass Hannah die Leiche allein in den Garten geschleppt hatte. Trotzdem grüsste Brandstetter fortan immer freundlich, wenn sie den Leuten aus dem Haus begegnete. Denn das war doch das Schöne an dieser Krise: Endlich lernte man seine NachbarInnen richtig kennen.

Dies ist der 10. und finale Teil des Covid-19-Krimi «Lockdown». Den 1., 2. ,3. ,4., 5., 6., 7., 8. und 9. Teil lesen Sie hier:
Lockdown (1): Der leere Balkon
Lockdown (2): Wo ist Frieda?
Lockdown (3): Keine Party, keine Dealer
Lockdown (4): Das Klacken hinterm Zaun
Lockdown (5): Die Frau auf dem Phantombild
Lockdown (6): «Homeoffice, das ist doch ein Witz»
Lockdown (7): Zeit für die Kavallerie
Lockdown (8): Als die Einkaufstüte riss
Lockdown (9): Uralte Statuten