Gute Neuigkeiten 2021: Und die Schweiz bewegt sich doch

Nr. 51 –

Trotz Rückschlägen kommt es in der Schweiz immer wieder auch zu Fortschritten. Ein spontaner Rückblick der Politikredaktion auf das vergangene Jahr.

Aufbruch beim Bürgerrecht

Die Migrationspolitik in der Schweiz kannte unter der thematischen SVP-Dominanz lange Zeit nur eine Devise: Abschreckung. Seit diesem Jahr ist jedoch plötzlich ein Aufbruch spürbar. Im Frühling kam die Forderung nach einer Modernisierung des Bürgerrechts auf die Agenda: Zuerst geschah dies mit Vorstössen der Grünen Lisa Mazzone und ihres SP-Kollegen Paul Rechsteiner, kurz darauf trat die zivilgesellschaftliche Aktion Vierviertel an die Öffentlichkeit.

So irritiert viele Politiker:innen reagieren, so interessiert berichteten zuletzt viele Medien. Sie erkennen offensichtlich die Dringlichkeit einer erleichterten Einbürgerung für Secondos und Secondas. Ein weiterer Vorstoss im Parlament, der vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre: SP-Nationalrätin Samira Marti fordert einen besseren Schutz vor Ausweisungen für Ausländer:innen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Nirgendwo zeigt sich die Niedertracht der Migrationspolitik stärker als bei der unseligen Verknüpfung von Aufenthaltsrecht und Fürsorge.

Schliesslich wurde aus der Asylbewegung das Referendum gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex lanciert und damit auch die Schweizer Beteiligung an der europäischen Abschottung skandalisiert. Damit bis Ende Jahr genug Unterschriften gesammelt werden, braucht es allerdings noch einen Effort.

Feministische Männer

«Alptraum» von Manuel Lobmaier ist ein eindrücklicher Film. Darin gehen zwei beste Freunde zusammen auf die Alp, und alles geht schief. Am Ende werden sie kein Wort mehr miteinander reden. Aufschlussreich ist eine Szene am Anfang: Da suchen die beiden per Inserat «offenherzigen» Frauenbesuch. Sie machen eine Liste der Frauen, die sich melden – und vergeben Noten. 2021 sieht frau diesen offenherzigen Sexismus und denkt: What?!

Der Film wurde im Regensommer 2014 gedreht. Das ist erst sieben Jahre her, und es ist schön, zu merken: Seither ist viel passiert. Die frühen zehner Jahre, das war die Zeit, als zwei Berufskollegen unabhängig voneinander sagten, dass der Frauenanteil auf einer Redaktion doch nicht wichtig sei. Als auch Gruppen, die sich links und kritisch fühlten, es ganz normal fanden, ein Podium mit fünf männlichen (weissen, heterosexuellen) Teilnehmern zu organisieren.

Dann ging es schnell: Nicht nur junge Frauen, auch Männer und Menschen, die diese Kategorien ablehnen, gingen plötzlich massenhaft für den Feminismus auf die Strasse. Und etablierten eine neue Kultur, über Geschlechter, Gefühle, Klassen und Privilegien zu reden. Das forderte auch Feminist:innen über dreissig heraus, eine neue Sprache zu lernen. Klar: Mainstream ist diese Kultur noch nicht. Aber doch so stark, dass der Mainstream darauf reagieren muss. Und das ist gut so.

Mehr Transparenz

Seit die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) vor einem Jahr einzig am Ständemehr scheiterte, ist aus Bundesbern ein unheimliches Grundrauschen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen zu vernehmen. Deren politische Partizipation wird von einer ganzen Reihe bürgerlicher Parlamentarier:innen fast schon kampagnenartig als eine Verruchtheit dargestellt. Zentrales Beispiel war der Vorstoss von FDP-Ständerat Ruedi Noser: Er wollte, dass die Bundesverwaltung den Kantonen auf die Finger schaut, ob die steuerbefreiten zivilgesellschaftlichen Organisationen auch wirklich gemeinnützig sind. Eine Schikane, die Institutionen zur politischen Selbstzensur hätte bewegen sollen.

Nosers Ansinnen wurde jedoch vor zwei Wochen im Nationalrat – wenn auch knapp – versenkt. Nötig waren eine geschlossene Linke und die Hilfe der GLP sowie eine gespaltene Mitte-Partei und acht rechtsbürgerliche Abweichler:innen. Einige von ihnen dürfte der Bundesrat mit seiner Vorlage zur Umsetzung des Kovi-Gegenvorschlags milde gestimmt haben, die er Anfang Monat präsentierte: Der Bundesrat hat diese komplett entzahnt.

Die Drohkulisse gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen dürfte allerdings nicht so schnell wieder verschwinden, der Vorwurf der undurchsichtigen politischen Betätigung wird weiterhin durchs Parlament hallen. Dabei wurde ebendort – und das ist die nächste gute Nachricht – nach jahrelangem Gezanke ein wichtiger Schritt zur Erhellung des schweizerischen Politbetriebs gemacht: Der parlamentarische Gegenvorschlag zur Transparenzinitiative, die Licht in die Politfinanzierung bringen will, war gut genug, um die Initiant:innen zum Rückzug ihres wichtigen Begehrens zu bewegen.

Erfolg gegen Rüstungslobby

Das Parlament ist nach den letzten Wahlen zwar weiblicher und jünger geworden, doch die Mehrheit ist weiterhin klar in bürgerlicher Hand. Progressive politische Projekte haben es entsprechend schwer. Umso erfreulicher war der Entscheid des Parlaments in diesem Herbst, das Kriegsmaterialgesetz zu verschärfen – gegen den Willen des Bundesrats und der im Bundeshaus gut vernetzten Rüstungslobby.

Es waren massgeblich Frauen, wie Priska Seiler Graf (SP) oder Marionna Schlatter (Grüne), die das Projekt vorangetrieben haben und denen dieser bedeutende Erfolg zu verdanken ist. Hinter das Anliegen stellten sich neben der Linken auch die GLP und beträchtliche Teile der Mitte-Partei – insbesondere Andrea Gmür, die im Ständerat eine entscheidende Rolle spielte. Doris Fiala (FDP) hat sich in der Abstimmung immerhin enthalten.

Weite Teile der Bevölkerung tragen eine lasche Waffenexportpolitik nicht mehr mit, wie die 2019 in Rekordzeit eingereichte «Korrekturinitiative» zeigt, die eine Lockerung von Waffenexporten verhindern sollte. Nach dem friedenspolitischen Erfolg im Parlament wurde sie zurückgezogen.

Mehr Arbeitskämpfe

Dass Krisen meist auf dem Rücken der weniger Privilegierten ausgetragen werden, ist keine Neuigkeit. Auch in der Pandemie sind die Reichen noch reicher geworden, während Arbeiter:innen oft nicht bloss die gesundheitlichen Kosten von Covid-19 zu tragen hatten – weil sie häufiger und schwerer erkrankten –, sondern auch die ökonomischen.

Dennoch gibt es Hoffnung: Das vergangene Jahr war nicht nur von Prekarisierung und Erschöpfung geprägt, sondern auch von Arbeitskämpfen. Auch in der Schweiz wurde mehr gestreikt – und das in Branchen, die als schwierig zu organisieren gelten. So legte im Sommer etwa das Personal des Lausanner Universitätsspitals die Arbeit nieder und verlangte mehr Anerkennung für den während der Pandemie geleisteten Einsatz. In Solothurn protestierten Beschäftigte einer Reinigungsfirma unter anderem gegen einen miesen Gesamtarbeitsvertrag. Und in elf Schweizer Städten streikten Fahrer:innen des Kurierdienstes Smood gegen schlechte Bezahlung und prekäre Bedingungen.

Zwar wurden in Lausanne, Solothurn und bei Smood kaum realpolitische Erfolge erzielt, doch in einem Land, in dem Arbeitskonflikte durch Verhandlungen befriedet werden, waren schon allein die Streiks ein Durchbruch. Das Gefühl von Selbstermächtigung wird so schnell nicht verschwinden.

Falls Sie das Referendum gegen Frontex unterstützen wollen: www.frontex-referendum.ch.