Deutschland: Die Zurückhaltung ist verflogen

Nr. 18 –

Rund um die Frage, ob schwere Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen, entflammte in Deutschland zuletzt eine schrille Debatte. Positionen abseits von Kriegsverherrlichung und Putin-Verharmlosung werden kaum mehr wahrgenommen.

Trotz anderslautender offizieller Linie hat die Bundesrepublik immer wieder Kriegsgerät an kriegführende Länder geliefert: Leopard-Panzer der Bundeswehr. Foto: Jörg Hüttenhölscher, Alamy

Ist Deutschland jetzt im Krieg? Unklar. Die öffentliche Debatte ist es indes längst. Seit Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar seine «Zeitenwende»-Rede im Bundestag gehalten und eine erhebliche Aufrüstung der Bundesrepublik angekündigt hat, schrauben sich die Warnungen, die historischen Bezüge und gegenseitigen Vorwürfe in immer schrillere Tonlagen hoch: Unter dem argumentativen Rückgriff auf die Shoah, einem Hitler-Vergleich oder dem Vorwurf, man strebe den Dritten Weltkrieg oder den Massenmord an ukrainischen Kindern an, machen es viele nicht mehr.

Zu sehen war dies etwa rund um eine Abstimmung im Parlament am 28. April. Die grosse Mehrheit votierte dort unter anderem für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine; mit Munition und «kleinen Waffen» wird das Land bereits beliefert. Bemerkenswert war das auch deshalb, weil nur wenige Tage zuvor der Kanzler die Lieferung schwerer Waffen noch mit dem Verweis auf die Gefahr eines Atomkriegs abgelehnt hatte. Davon ist nun nicht mehr die Rede.

Öder Debattenzustand

Ablehnend gegenüber jeder Art von Waffenlieferung an die Ukraine ist die Linkspartei, deren Fraktion geschlossen gegen den Antrag von Sozialdemokrat:innen, Grünen, FDP und CDU/CSU stimmte. Dennoch erntete etwa die Abgeordnete Sevim Dagdelen auch Kritik aus den eigenen Reihen, als sie nach der Abstimmung verkündete, der Bundestag habe «nichts weniger als den faktischen Kriegseintritt beschlossen». Wie auch Sahra Wagenknecht lobte Dagdelen die Schweiz dafür, nicht einmal Munition nach Kyjiw zu schicken. Beide scheinen sich ihrer Sache sehr gewiss; die Blamage, bis unmittelbar vor dem russischen Überfall auf die Ukraine zu jenen gehört zu haben, die versicherten, Putin habe keinerlei Interesse an einem Krieg, hat keineswegs für Zurückhaltung gesorgt.

An einer weiteren Intervention gegen die Lieferung schwerer Waffen versuchte sich eine Gruppe Intellektueller um die Journalistin Alice Schwarzer. Deren offener Brief an Olaf Scholz sorgte für einige Empörung. «Was soll denn die Ukraine tun? Soll sie sich etwa ergeben?» – so der Grundtenor der Reaktionen. Dass es auf diese Fragen keine guten Antworten von links gibt, verfestigt den öden Zustand einer Frontstellung zwischen Verharmloser:innen des russischen Regimes und seiner expansionistischen Ambitionen auf der einen Seite und jenen, die eine militärische Komplettierung der Vormachtstellung Deutschlands in der EU geradezu herbeisehnen und keinerlei Kritik an der Nato zulassen wollen, auf der anderen.

Positionen jenseits dieser beiden Pole sind in der öffentlichen Debatte kaum noch zu vernehmen. Die radikale Linke hat sich grösstenteils beim Slogan «No war but class war» (Kein Krieg ausser Klassenkrieg) eingependelt; dass das in Bezug auf den Ukrainekrieg wenig Konkretes bedeutet, zeigte sich etwa auf der abendlichen Berliner 1.-Mai-Demonstration, auf der das Thema nur eine untergeordnete Rolle spielte.

Die militaristische Fraktion hat dagegen klar Oberwasser: Aktuellen Umfragen zufolge befürwortet inzwischen eine mehr oder wenige knappe Mehrheit der Deutschen die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine; noch im März war es ein Drittel gewesen. Wer der bellizistisch gestimmten Mehrheit deutscher Meinungsmacher:innen folgt, muss zudem den Eindruck gewinnen, noch nie sei ein deutscher Panzer in einem Kriegsgebiet aufgefahren. Deutschland überwinde demnach gerade seinen «Pazifismus» – ein Land also, dessen Soldat:innen in den letzten Jahren mitunter in Mali und Afghanistan im Einsatz waren und dessen Rüstungsindustrie im Jahr 2021 Kriegsgerät im Wert von knapp neun Milliarden Euro exportierte. Trotz anderslautender offizieller Linie hat die Bundesrepublik immer wieder auch an kriegführende Länder geliefert, etwa an Staaten der Jemen-Kriegsallianz und die Türkei. Darunter auch schwere Waffen.

Kriegspartei oder nicht?

Der neuste Bundestagsbeschluss ist also weniger wegen der Belieferung einer Kriegspartei ein besonderer, sondern vor allem, weil auf der anderen Seite Russland steht, das im Übrigen bis vor kurzem ebenfalls von deutschen Waffenherstellern versorgt wurde – trotz EU-Embargo seit 2014.

Ist die Bundesrepublik nun aber Kriegspartei? Wenige Tage nach der Abstimmung berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland über ein schon im März erstelltes Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, demzufolge westliche Waffenlieferungen «völkerrechtlich» nicht als Kriegseintritt gelten. Allerdings: Würden ukrainische Soldaten an diesen Waffen auf deutschem Boden ausgebildet, könne das durchaus eine Kriegsbeteiligung darstellen, so die Gutachter:innen. Auch dies hat der Bundestag beschlossen, und: Auf US-Militärstützpunkten in Deutschland passiert es bereits.