Neutralität: Bürgerliches Waffengeklirr
Seit über zwei Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Real, zerstörerisch, mit unvorstellbaren Folgen für die Zivilbevölkerung. Seit über zwei Monaten ist der Krieg auch in der Schweiz. Mental, politisch, in einer Engführung in den Köpfen. In Bundesbern werden all die komplizierten Fragen, die der Krieg aufwirft, zunehmend auf ein Feld beschränkt: die Sicherheitspolitik. Oder noch enger gefasst: die Aufrüstung.
Bereits vier Tage nach Kriegsausbruch wusste die SVP, eilig unterstützt von FDP und Mitte-Partei, die Antwort: Das jährliche Militärbudget soll von fünf auf sieben Milliarden steigen. Mehr noch: Es soll direkt ans Bruttoinlandsprodukt gekoppelt werden, also bei steigender Wertschöpfung der Volkswirtschaft automatisch wachsen. Ohne dass Verteidigungsministerin Viola Amherd einen Plan vorgelegt hätte, wofür sie die enorme Geldsumme braucht. Und ohne dass nur ein Franken davon der Ukraine auf irgendeine Weise helfen wird. Nächste Woche kommt der Vorschlag in den Nationalrat. Zu erwarten ist eine bürgerliche Machtdemonstration sondergleichen.
Doch damit nicht genug an Waffengeklirr: Mitte-Präsident Gerhard Pfister schlug vor, bestehende Rüstungsexportverbote per Notrecht zu lockern. Und FDP-Präsident Thierry Burkart will die Neutralität neu definieren, was für ihn nichts anderes bedeutet als eine Annäherung an das Militärbündnis Nato. In den Medien wird den beiden applaudiert: Innovative Denker seien sie, die tabulose Fragen stellten. Von wegen.
Wer bloss von der Aufrüstung gegen Russland spricht, lenkt von den Profiten ab, die die Schweiz Putins Diktatur verdankt. Pfister war in seiner Politkarriere stets ein treuer Förderer des Finanzplatzes Zug, über den ein grosser Teil des russischen Rohstoffhandels läuft. Und auch der FDP als Bankenpartei dürfte es gelegen kommen, dass man nicht länger über eine Taskforce zur Aufspürung russischer Oligarchengelder diskutiert.
Fast schon ist vergessen, was der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in seiner Rede Mitte März von der Schweiz forderte: Aufrüstung? Waffenlieferungen? Den Nato-Beitritt? «Ich möchte auch, dass Sie wie die Ukrainer werden im Kampf gegen das Böse. Damit die Banken keine Fragen mehr aufwerfen. Eure Banken, die das Geld all derer aufbewahren, die diesen Krieg losgetreten haben. Es wird schmerzhaft und hart. Aber es ist ein Kampf gegen das Böse.»
Schmerzlichen Gewissheiten hat sich die bürgerliche Schweiz noch nie gerne gestellt. Lieber mogelte sie sich mit dem Konzept der Neutralität durch, das dem Söldnernest 1815 von den Grossmächten zugeschrieben worden war. «Dehn- und knetbar wie ein Kaugummi» sei diese Neutralität, meinte Historiker Hans-Ulrich Jost in der «SonntagsZeitung» treffend. Sie ist stets zu den eigenen Gunsten formbar. Derweil imaginierte man sich fiebrig den Krieg: mit einem Bunkerbauboom, der weltweit seinesgleichen sucht, und mit einer der in Relation zur Bevölkerungszahl teuersten Armeen Europas. Um in diesen Tagen nicht in die Denkmuster des Kalten Kriegs zurückzufallen und Tatkraft mittels Aufrüstung zu demonstrieren, hält man besser einmal inne.
Will die Schweiz ihre Neutralität im 21. Jahrhundert neu definieren, stellt sich nicht die Frage, wie sie sich vor Gefahren der Welt schützt. Sondern wie die Welt weniger Schaden durch die Schweiz erfährt. Die Oligarchengelder sind Ausdruck davon, wie dieses Land den Diebstahl der Superreichen fördert. Der Rohstoffhandel zeigt, wie es den fossilen Kapitalismus befeuert. Und auch wenn Geflüchtete aus der Ukraine generös aufgenommen werden: Letztlich ist es ein Eingeständnis, wie rigide die Grenzen zum Süden abgeriegelt sind.
Bei all dem einen Kurswechsel zu schaffen, ist eine riesige Herausforderung. Doch auf der Suche nach ihrem Platz in einer Welt, die gerade neu geordnet wird, kann die Schweiz auch ganz praktisch vorgehen. Ein Vorschlag zum Anfang: Die zwei Milliarden pro Jahr für die Armee wären eindeutig besser in den Wiederaufbau der Ukraine investiert.