Ständerat: Der Knall von Schaffhausen

Nr. 47 –

Eine breite Bewegung trug den Sozialdemokraten Simon Stocker zum Erfolg. Rollen im Stück spielten: ein dicker Hals, hohe Spenden, ein liberales Komitee und eine lustvolle Kampagne.

Simon Stocker feiert am Sonntag nach Bekanntgabe des Wahlresultats
Ein Gläschen vor dem Triumphzug: Simon Stocker am Sonntag nach Bekanntgabe des Wahlresultats. Foto: Robin Kohler, Schaffhauser AZ

Sonntag, kurz nach halb zwölf. «Ich habe aus Mitleid Minder gewählt», witzelt ein Mann und zieht dann genüsslich an seiner Zigarette. Die Stimmung vor dem SP-Sekretariat mitten in der Schaffhauser Altstadt ist aufgeräumt, obwohl erst in gut zwei Stunden feststeht, wer das Rennen um den freien Sitz im Ständerat macht – der Bisherige, Thomas Minder, oder der Aussenseiter, Simon Stocker.

Noch ist keine der 26 Gemeinden ausgezählt. In einem fensterlosen Raum der Unionsdruckerei sitzt Wahlkampfleiter Lorenz Keller an einer Festbank vor dem Laptop. Er wirkt angespannt, spielt in einer Hand mit dem Handy, die andere hat er auf den Oberschenkel gestützt – und starrt auf die leere Resultatliste. Ein halbes Dutzend Kinder tollen herum, werfen Ballone in die Luft, die ersten Männer genehmigen sich ein Bier. Simon Stocker wirkt cool. Dann treffen die ersten Resultate aus sechs kleinen Gemeinden ein. Minder: 415 Stimmen, Stocker: 319. «Scheiss Minder!», entfährt es einem Mädchen. Ihr Vater beruhigt sie und erklärt, das Rennen sei noch lange nicht gelaufen.

Wie im ersten Wahlgang kommt es am Ende auf die Stadt Schaffhausen an, wo fast die Hälfte der 83 000 Schaffhauser:innen lebt. Bereits im ersten Wahlgang machte Simon Stocker hier den Unterschied, schliesslich lag er überraschend 1411 Stimmen vor Minder. So wird es auch an diesem Tag sein. Als die letzten vier Gemeinden ausgezählt sind, liegt er 2265 Stimmen vor Thomas Minder. Der Mundwasser-Unternehmer ist abgewählt, hat selbst in seiner Wohngemeinde Neuhausen gegenüber seinem Herausforderer das Nachsehen.

In Simon Stockers Wahlzentrale entlädt sich die Nervosität in lautem Jubel. Fünfzig Leute klatschen und wollen nicht mehr damit aufhören. Stocker streckt die Hände in die Höhe, er lässt den Korken einer Flasche Champagner knallen. Die Anspannung, die er hinter seinem Lächeln versteckt hat, fällt von ihm ab; Anhängerinnen und Anhänger umarmen ihn. Dann formiert sich ein kleiner Triumphzug durch die Innenstadt Richtung Regierungsgebäude, Stocker schiebt dabei einen Kinderwagen. Allein dieses Bild sagt alles: Nicht mehr zwei rechtskonservative alte Männer repräsentieren künftig den Kanton im Stöckli – der bereits im ersten Wahlgang bestätigte Hannes Germann (SVP) ist 67, Minder 63 Jahre alt –, in der neuen Legislatur fährt der progressive Simon Stocker, 42, nach Bern. Vor dem Regierungsgebäude bestürmen Kamerateams Stocker, weiter oben wartet Altnationalrat Hans-Jürg Fehr und strahlt. Auch er wird Stocker in die Arme schliessen. «Sensation», «Coup», «historisch»: Das sind die Etiketten, die diesem Erfolg angeklebt werden. Ein Erfolg, für den es vier Gründe gibt:

Die Fusion

Im Jahr 2003 erhielt die Sozialdemokratie Schaffhausens Konkurrenz von links aussen. Damals erschien die Alternative Liste (AL) auf dem Platz. Mitgegründet ausgerechnet von Simon Stocker. Die aktivistischen Jungen machten den Genoss:innen Dampf, bodigten Steuerpakete, organisierten grosse Demos, nahmen Einsitz im Kantonsparlament und im Stadtrat von Schaffhausen. Im vergangenen Jahr dann ein Paukenschlag: Die AL löste sich auf ihrem Höhepunkt auf – genau genommen trat sie praktisch geschlossen in die SP ein. Und brachte dort das Bewegungselement ein, das diese Wahl mitentschied.

Die Kampagne

Geleitet haben den Wahlkampf zwei erfahrene Leute: Lorenz Keller und Thomas Leuzinger arbeiten beide in einer politischen Kampagnenagentur. Aus ihrer Zeit bei den Gewerkschaften haben sie ihr aktivistisches Know-how mitgebracht und wissen, wie sich dieses mit modernen Kampagnen verbinden lässt. Online konnte, wer wollte, Plakate und Flyer bestellen, diese wurden innerhalb weniger Tage geliefert. «Wir waren schnell, unsere Unterstützer:innen mussten nicht lange warten», sagt Keller. Und Stocker war immer nah dran. «Wir merkten schnell, die Leute hatten Lust, mitzumachen, Simon hat überall mit angepackt, er half bei der Auslieferung der Flyer, verteilte Gipfeli. Dieser direkte Kontakt hat offensichtlich den Funken überspringen lassen, es war überhaupt eine lustvolle Angelegenheit», sagt Keller. Etwa 1200 Plakate und Tausende von Flyern kamen so unters Volk. «Auch der unglaubliche Spendeneingang hat dieser Kampagne Schub gegeben», bemerkt der Campaigner. Ein Budget von 250 000 Franken stand dem Wahlkampfteam zur Verfügung: in einem kleinen Kanton eine gewaltige Summe. Der Betrag setzt sich zusammen aus dem Beitrag der Partei, 1400 Einzelspenden und schliesslich einem Zuschuss der SP Schweiz von 40 000 Franken, abgesegnet vom Parteirat.

Die Kandidaten

Simon Stocker gilt als geborener Wahlkämpfer, manche übertreiben und nennen ihn wegen seiner einnehmenden Art den «Kennedy von Schaffhausen». Freundlich, verbindlich und als ehemaliger Stadtrat von Schaffhausen erfahren in der Exekutive. Seine Familie ist im Kanton bekannt, der Vater war Kantonsrat und präsidierte einst das Schaffhauser Parlament. Ein Vorteil für Stocker war auch seine Arbeit in der Leitung einer Altersfachstelle. In Schaffhausen wählen die Leute kein Parteiprogramm, sie wählen Personen. Im überschaubaren Kanton kennt man sich.

Das gilt auch für Thomas Minder. Und das war sein Nachteil – er gilt als Misanthrop, der Tiere gernhat, aber nicht unbedingt Menschen. Der Politiker mit «dickem Hals» (Selbstzuschreibung) wirkt ständig aufgebracht, und sein Nimbus als Abzockerschreck ist verblasst, er lieferte politisch nicht. Ein anderer Nachteil: Er kann es nicht mit Journalist:innen. Die der SVP nahestehenden «Schaffhauser Nachrichten» gaben vor dem zweiten Wahlgang eine Empfehlung für die FDP-Frau Nina Schärrer ab. Dabei hatte sich Schärrer nach dem ersten Wahlgang (unfreiwillig) zurückgezogen. Die Rede ist von einer Fehde zwischen Minder und der Zeitung. Die 36-jährige Schärrer machte im zweiten Durchlauf immerhin 1200 Stimmen. Einfluss hatte ausserdem die «Schaffhauser AZ», eine gut gemachte Wochenzeitung, die immer wieder mit bissigen Recherchen auffällt und sich politisch nicht vereinnahmen lässt. Sie porträtierte Minder als problematischen Firmenchef.

Die FDP

Als Stockers unfreiwillige Helferin betätigte sich die FDP. Sie zwang, obschon vor der Wahl anders abgemacht, Nina Schärrer nach dem ersten Wahlgang zum Rückzug. Schärrer war auf dem vierten Platz gelandet. Der Kniefall vor dem rechtskonservativen Lager half Stocker. Für manche Freisinnige ein Affront. Sie wechselten ins Stocker-Lager und engagierten sich im Komitee «Liberale wählen Stocker» – Freisinnige, die sich sonst womöglich für Schärrer ins Zeug gelegt hätten. Sie sagt: «Ich wäre gerne nochmals angetreten.» Und sie ist überzeugt: «Viele Wählerinnen und Wähler hätten eine konsensorientierte liberale Kandidatin bevorzugt.»

In den Augen von Eduard Joos ist die FDP nicht mehr die Partei, in die er eintrat. Einst politisierte der heutige Pensionär für sie im Kantonsrat. Vor einigen Jahren hat er ihr den Rücken gekehrt und ist still und leise ausgetreten. «Mir ist sie zu weit nach rechts gerückt und hat nur noch einen Fokus: die Interessen der Wirtschaft.» Der ehemalige «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor und Schaffhauser Peter Hartmeier hat sich im liberalen Komitee für Stocker eingesetzt. Dieser sei ein toller Wahlkämpfer. «Aber er ist mehr als das. Er hat Potenzial. Ich kann mich natürlich täuschen, aber ich glaube, von ihm werden wir in Bern noch hören.»