Rüstungsexporte: Die falschen Tränen der Waffenschmieden
Seit Jahren beklagt die Schweizer Rüstungsindustrie ihren angeblichen Niedergang aufgrund gesetzlicher Einschränkungen. Mit der Realität hat das wenig zu tun, wie neue Zahlen zeigen.
Es ist ein Horrorszenario, das in den letzten Tagen in den Medien kursierte. «Schweizer Rüstungsindustrie vor dem Kollaps» titelte die «SonntagsZeitung». Das «St. Galler Tagblatt» wiederum zeichnete Anfang Woche ein düsteres Bild von diversen Ostschweizer Rüstungsfirmen: Kurzarbeit, eventuelle Schliessungen und Produktionsverlagerungen ins Ausland – der Industrie drohe der «Exodus».
Auch die Politik schlägt alarmistische Töne an. Vergangene Woche lud Maja Riniker (FDP) als aktuelle Nationalratspräsidentin und damit höchste Schweizerin zu einem «parlamentarischen Frühstück». Thema: das Kriegsmaterialgesetz und seine weitreichenden Konsequenzen für die hiesige Rüstungsindustrie. Dazu gab es einen Vortrag von Hannes Hauri, dem CEO der Thuner Munitionsfabrik Swiss P Defence, unter dem Titel «Genickbruch für unsere Verteidigungsfähigkeit». Bereits im Dezember hatte Wirtschaftsminister Guy Parmelin einen «runden Tisch» zwischen Behördenvertreter:innen und der Rüstungsindustrie einberufen, da die Branche «nunmehr an den Rand gedrängt werde», wie es in der Einladung heisst.
Der grosse Privatmarkt
Ob dieses Wehklagens sind die neusten Rüstungsexportzahlen mit Spannung erwartet worden. Bei der Präsentation durch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) am Dienstag zeigte sich indes rasch: Die aktuellen Zahlen beschreiben keinen Rückgang, sondern höchstens ein Stagnieren. Die effektiven Kriegsmaterialexporte sind 2024 mit einem Umfang von 665 Millionen Franken nur geringfügig zurückgegangen, im Jahr davor betrugen sie 697 Millionen. Die Ausfuhren liegen damit noch immer deutlich über dem Schnitt der letzten zwei Jahrzehnte von 616 Millionen. Das Auftragsvolumen der Schweizer Rüstungsbetriebe dürfte in den kommenden Jahren zudem eher zunehmen. Im letzten Jahr hat das Seco Kriegsmaterial-Ausfuhrgesuche im Umfang von 1,85 Milliarden Franken neu bewilligt, was einer Zunahme von weit über 800 Millionen gegenüber 2023 entspricht.
Aufschlussreich ist auch eine andere Zahl, die das Seco präsentierte: Fünfzig Prozent der Schweizer Kriegsmaterialexporte gehen aktuell an private Kunden. Dabei handelt es sich zum grössten Teil um Einzelteile und Baugruppen, die an ausländische Rüstungsfirmen geliefert werden, die daraus dann fertige Waffensysteme produzieren. Solche Exporte erfolgen primär in europäische Länder – allen voran nach Deutschland – sowie in die USA, nach Kanada, Japan oder Brasilien. Weitere fünf Prozent der Schweizer Kriegsmaterialexporte fliessen in den internationalen Privatmarkt, in erster Linie für Kleinwaffen und dazugehörige Munition. Im Gegensatz zu Lieferungen an staatliche Abnehmer sind für Exporte an private Rüstungsfirmen oder an Waffenhändler:innen keine Nichtwiederausfuhr-Erklärungen nötig. Das juristische Instrument, mit dem verhindert werden soll, dass Schweizer Kriegsmaterial indirekt über einen Empfängerstaat an eine Kriegspartei gelangt, greift also nicht.
Anders ausgedrückt: Bei der Hälfte aller Schweizer Waffenexporte verfügt das für die Exportkontrolle zuständige Seco über kein wirksames Kontrollinstrument. Allein zwischen 2019 und 2023 gingen Einzelteile und Baugruppen im Umfang von knapp 150 Millionen Franken an US-Firmen, wie das Seco gegenüber der WOZ bestätigt. Die USA liefern umfangreiche Waffensysteme, die substanzielle Schweizer Bauteile enthalten könnten, an Saudi-Arabien, nach Israel oder in die Ukraine – allesamt Länder, die in Kriege verwickelt sind.
Gesetzesänderung auf dem Weg
Dass fünfzig Prozent der Schweizer Waffenexporte ohne Nichtwiederausfuhr-Erklärung an private Abnehmer:innen gehen, widerspricht der verbreiteten Darstellung einer Branche am Abgrund. «Die Rüstungsindustrie betreibt Propaganda mit System, und viele Medien machen mit», kritisiert Marionna Schlatter, sicherheitspolitische Expertin der Grünen. Sie hatte im Dezember eine Interpellation eingereicht, die das Ausmass der Waffenexporte an private Abnehmer:innen thematisierte. Es ist nicht zuletzt ihrem Vorstoss zu verdanken, dass dieser Sachverhalt endlich an die Öffentlichkeit kommt.
Bis anhin hatte das Thema der Nichtwiederausfuhr-Erklärungen die politische Debatte rund um Schweizer Waffenexporte komplett dominiert. In den Monaten nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wollten sowohl Deutschland wie auch Dänemark und Spanien einst aus der Schweiz importiertes Kriegsmaterial – Munition, Schützenpanzer und Flugabwehrkanonen – an die ukrainische Armee weitergeben. Doch das lässt die Schweizer Gesetzgebung nicht zu.
«Die Darstellung der Rüstungslobby, dass die Schweiz wegen der Diskussion um die Wiederausfuhr ‹abgestraft› wird, ist unlauter», sagt Marionna Schlatter. Die Zahlen würden eine andere Sprache sprechen. Für die Nationalrätin ist klar, «dass die Rüstungslobby die Diskussion um die Ukraine benutzt, um die Exportgesetzgebung zu lockern». Um die Ukraine selbst gehe es ihr nicht.
Tatsächlich werden in den nächsten Monaten zwei Änderungen des Kriegsmaterialgesetzes vors Parlament kommen, die eine Aufweichung des aktuellen Exportkontrollregimes bedeuten würden (siehe WOZ Nr. 41/24). Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee droht bereits mit dem Referendum.