Zivildienst: Zurück zur Schikane

Nr. 24 –

Im Parlament wird derzeit an der gezielten Demontage des Zivildiensts gewerkelt – trotz absehbarer Mehrkosten in Milliardenhöhe. Drei persönliche Erfahrungsberichte wider die militaristische Zerstörungswut.

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Symbolbild: ein Zivildienstleistender befüllt eine grosse Waschmaschine mit Wäsche
«Ich war zwar nicht männlich genug für die Armee, aber gut genug für den ­Zivildienst, um mich dort in ‹Frauenberufen› zu üben» (Symbolbild). Foto: Keystone

Kaum ein politisches Geschäft legt die geistige Verfasstheit des aktuellen Parlaments deutlicher offen, als es die angelaufene gezielte Zerstörung des Zivildiensts tut – einer Institution, die erst seit 1996 besteht und es jungen wehrpflichtigen Männern ermöglicht, aus Gewissensgründen dem bewaffneten und uniformierten Gang in die Kaserne zu entgehen und stattdessen einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten. Davor hatte Militärdienstverweigerern nur ein Weg offengestanden: jener ins Gefängnis.

Der geradlinigste Weg sollte für junge Schweizer trotzdem weiterhin in die Rekrutenschule führen, dafür sorgte der Gesetzgeber mit Entschlossenheit. So dauert der Zivildienst bis heute anderthalbmal so lang wie der Militärdienst. Und zwischen 1996 und 2009 musste eine sogenannte Gewissensprüfung ablegen, wer ihn leisten wollte. Der bewusste Entscheid gegen den Eintritt in eine grotesk autoritäre Männerwelt sollte «abnormal» bleiben und der Staat entsprechend genau hinschauen.

Dass die Disziplinierungsmassnahme ihre Wirkung nicht verfehlte, zeigt die Vervierfachung der jährlichen Zulassungen zum Zivildienst auf durchschnittlich knapp 7000 Personen nach der Abschaffung der Gewissensprüfung. Darunter sind jedes Jahr Hunderte bereits ausgebildete Soldaten, die dem Militärdienst den Rücken kehren. Der Grund liegt auf der Hand: Offensichtlich empfinden sie den Dienst in der Armee als dermassen sinnentleert oder gar belastend, dass sie ihm eine verlängerte Dienstpflicht im zivilen Bereich vorziehen.

Es ist eine Realität, die die rechtsbürgerliche Mehrheit im Bundeshaus ignoriert. Für sie ist die Armee die einzige Sicherheitsgarantin für das Land; entsprechend kann sie ihr gar nicht genug Milliarden zuschieben, so scheint es, auch wenn bisher kaum eine erkennbare Strategie zur Verwendung dieser Mittel vorhanden ist. In ihrer militärisch dominierten Logik stellt der Zivildienst eine Gefährdung der schweizerischen Wehrhaftigkeit dar, weil er zu viele junge Männer vom Armeedienst abhalte – weshalb etwa die Gewissensprüfung wieder eingeführt werden soll. Weiter will man wechselwillige Soldaten durch eine deutliche Erhöhung der zu leistenden Zivildiensttage vom Armeeaustritt abhalten. Und ganz grundsätzlich soll der Zivildienst marginalisiert werden, indem man ihn mit dem Zivilschutz zu einem «Katastrophenschutz» zusammenlegt.

Wen kümmert es dabei, dass das Reformvorhaben Mehrkosten in Milliardenhöhe mit sich bringen würde, weil in neue Infrastruktur investiert werden müsste und künftig viel mehr Diensttage zu leisten wären? Den Nationalrat jedenfalls nicht: Er hat letzte Woche einer entsprechenden Motion (Titel: «Einführung der Sicherheitsdienstpflicht», eingereicht von der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats) zugestimmt. Nächste Woche kommt sie in den Ständerat.

Die Signale sind klar: Künftig soll es jungen Männern in der Schweiz wieder schwerer gemacht werden, um die Wehrpflicht herumzukommen. Zu Zehntausenden werden sie jedes Jahr durch den Maschinenraum der rechtsbürgerlichen Wehrhaftigkeits- und Männlichkeitsreproduktion geschleust. Und die persönlichen Erfahrungsberichte von drei WOZ-Redaktoren zeigen: Die mutwillige Demontage des Zivildiensts und auch die Wiedereinführung der schikanösen Gewissensprüfung würden einen gewaltigen Rückschritt bedeuten – auch wenn der Zivildienst selbst nicht ohne Widersprüche auskommt.

«Ich wollte wissen, ob die Armee wirklich so übel war»

Im November 1989 fand eine denkwürdige Abstimmung zur Armeeabschaffung statt, die schweizweit eine überraschende Zustimmung von fast 36 Prozent fand. Ich lebte damals, als neunjähriges Kind, im Berner Jura, und es war die erste Abstimmung, die ich bewusst wahrnahm. In der Genossenschaftsbeiz, wo meine Mama arbeitete, diskutierten die Gäste emotional über das Thema, ich hörte interessiert zu, und es leuchtete mir sofort ein, dass Abertausende von bewaffneten Männern in Panzern und Kampfjets keine gute Idee waren. Ein Teil meiner Familie war einst vor den Panzern des Warschauer Paktes geflüchtet, die 1968 den Prager Frühling platt walzten.

Trotzdem beschloss ich als junger Erwachsener, die Rekrutenschule zu absolvieren. Ich wollte wissen, ob die Armee wirklich so übel war, wie ich sie mir vorstellte. Da ich keine Waffe tragen wollte, musste ich zunächst eine sehr unangenehme Gewissensprüfung ablegen, bei der meine Haltung als eine Art geistige Störung behandelt wurde. Am Ende kam mein Gesuch durch, und im Sommer 2001 begann ich die Rekrutenschule als waffenloser Sanitätssoldat in Losone im Kanton Tessin.

Die RS hinterliess bei mir einen ambivalenten Eindruck. Einerseits hatte ich mit meinen Leidensgenossen eine weitgehend gute Zeit in der Kaserne. Die medizinische Grundausbildung – Verbände richtig anlegen, Wiederbelebungsmassnahmen, Infusionsspritzen setzen – machte Spass, sie war ja auch über die Armee hinaus nützlich. Aber alles, was mit der Armee als massgebendem Rahmen zu tun hatte, war furchtbar: inkompetente und herrschsüchtige Vorgesetzte, sinnlose Übungen, die einzig und allein tumben Gehorsam zum Ziel hatten, und Strafen als alltägliches Mittel zur Durchsetzung von Macht.

Ich setzte mich schon während der RS mehrmals mit der Möglichkeit auseinander, Zivildienst zu leisten. Aber der Leidensdruck war nicht hoch genug. Das änderte sich mit den Wiederholungskursen: Ich war in eine kleine Sanitätseinheit im Jura eingeteilt. Auf der Panzerpiste ereigneten sich reihenweise gravierende Unfälle. Und in der Kantine erzählten mir WK-Soldaten, sie müssten mit ihrem schweren Gefährt vom einen Ende des Landes ans andere brettern, um möglichst viel Treibstoff zu verbrauchen und damit das Kontingent für den kommenden WK zu sichern. Aus demselben Grund verballerten sie auf dem Schiessplatz dauernd Unmengen an Munition.

Spätestens als unser Vorschlag, aus Protest gegen George W. Bushs Irakkrieg neben der Schweizerfahne auch eine Peacefahne zu hissen, mit «ihr Scheiss-Sani-Schw***» quittiert wurde, war mir klar, dass ich gehen musste. Sofort. Die Möglichkeit, Zivildiensteinsätze leisten zu können, war eine grosse Befreiung. Und eines ist klar, egal was bürgerliche Militärpolitiker:innen sagen mögen: Der Zivildienst ist nicht zu attraktiv – sondern der Armeedienst viel zu unattraktiv.

Jan Jirát

«‹Ich habe gar keine Freundin›, sagte ich und lächelte»

Jetzt sind es also die «geopolitischen Unsicherheiten», die es nötig machen sollen, den Zivildienst zu schwächen. Weil diese gar im Verbund mit «zunehmenden internationalen Spannungen» aufträten, will die Sicherheitskommission des Nationalrats die Uhr weit zurückdrehen und die Gewissensprüfung zur Zulassung zum Zivildienst wieder einführen. 2009 hat der Bundesrat sie mit Verweis auf ihre Untauglichkeit, hohe Kosten und eine unfaire Grundanlage abgeschafft.

Geopolitische Unsicherheiten sind nichts Neues im Argumentarium, um der Schweizer Armee möglichst viele Rekruten zuzuführen. Schon vor gut 25 Jahren standen sie mir im Weg, als ich den Eingang in den Zivildienst suchte. Erinnerungen an eine behördliche Einschüchterung: ein Vormittag in Thun, wenige Monate nach der militärischen Aushebung. Aufgebot zur Anhörung vor der Zulassungskommission. Zuvor schon musste ich ein schriftliches Gesuch stellen und dabei meine Beweggründe darlegen.

Dann in Thun: Ein Verhandlungssaal in einem schmucklosen Verwaltungsbau, an einem langen Pult sassen drei strenge Personen, versetzt daneben ein Protokollführer. Hier also tagt das hohe Gericht, dachte ich beklommen – aber zur Klärung welchen Verbrechens? Der Eindruck täuschte. Es waren keine Richterinnen und auch keine Psychologen, es waren Laien, die da vor mir sassen – ausgesiebt aus 1600 Bewerber:innen, die sich auf Zeitungsanzeigen gemeldet und sich in einer Schnellbleiche die Erforschung des Gewissens angeeignet hatten. Und die nun eine Stunde Zeit hatten, um mit teilweise sehr intimen Fragen in meinen Kopf zu blicken.

Die (fehlende) christliche Gläubigkeit wurde ebenso ausgekundschaftet wie mögliche Gewalterfahrungen in der Jugend und der Familie. Irgendwann kamen wir zur Geopolitik. Was, wenn jetzt eine fremde Macht in die Schweiz einfiele? Wäre ich dann nicht froh um die Armee? Das erscheine mir doch sehr hypothetisch, antwortete ich. «Und als Hypothese: Was würden Sie dann tun?» «Vermutlich würde ich davonrennen», sagte ich. «Stellen Sie sich jetzt vor, Sie sind im Ausgang, und jemand greift Ihre Freundin an.» – «Ich habe gar keine Freundin», gab ich zur Antwort und lächelte. Vorne lachte niemand.

Ich war überrascht, dass ich die Gewissensprüfung bestanden hatte. Wobei mit einer Anerkennungsquote von 95 Prozent damals fast alle durchkamen. Für die Armee erfüllte der ganze Zirkus trotzdem seinen Zweck: Er schuf Hürden für junge Männer, denen es schwerfiel, für ihr Unbehagen den richtigen Ausdruck zu finden. Und bei allen, die diese Hürden überwanden, hinterliess er einen bleibenden Eindruck: jenen eines staatlichen Apparats, gegenüber dem man sich für seine Ansichten zu rechtfertigen hat.

Renato Beck

«Ich lernte vieles, was ich schon viel früher hätte lernen sollen»

Mit die unangenehmsten Zeitgenoss:innen sind frische Abgänger:innen von Langzeitgymnasien. Viele von ihnen jedenfalls. Während langer Jahre haben sie zuvor ausschliesslich Kontakt zu anderen Schüler:innen gehabt, kaum ernsthaft gearbeitet. Sie glauben, die Welt liege ihnen zu Füssen. Was sie auch tut – jetzt, da sie sich mit dem Rucksack dazu aufmachen, den Globalen Süden durchs Hostelfenster hindurch zu begutachten.

Ich darf das sagen, denn ich war auch so einer. Aber bevor ich aufbrach, musste ich zur Rekrutierung, und das war fürchterlich. Ich hatte Angst vor den anderen Jungs und vor dieser Fetischinszenierung strenger Soldaten in polierten Stiefeln und strammen Uniformen. Die Entscheidung, nicht hinzugehen, fiel mir also leicht. Leichter als den älteren Kollegen, die dafür noch eine Gewissensprüfung absolvieren mussten. Und vor allem leichter als den gleich gesinnten Wehrpflichtigen vor 1996, die für ihre Haltung noch zu Tausenden inhaftiert worden sind. Mein Gesuch wurde anstandslos bewilligt. Ich war zwar nicht männlich genug für die Armee, aber gut genug für den Zivildienst, um mich dort in «Frauenberufen» zu üben (83 Prozent der Zivildiensttage werden im Sozial-, Schul- und Gesundheitswesen absolviert).

Ein halbes Jahr lang arbeitete ich in einer Kindertagesstätte. Ich lernte vieles, was ich schon viel früher hätte lernen sollen. Darüber, wie hart der Betreuungsberuf ist. Und auch über die strukturelle Abwertung und Ausbeutung in der Care-Arbeit. Nur wenige ausgebildete Fachfrauen arbeiteten in den Kindergruppen, den grössten Teil der Fleissarbeit leisteten schlecht bezahlte Praktikantinnen (Voraussetzung für die Lehre) und Lernende. Ich half mit, so gut ich konnte, war sechs Monate lang dauererkältet, übermüdet und ausgelaugt. Vor allem lernte ich Demut vor der Arbeitsrealität ausserhalb des Schulzimmers.

Der Zivildienst ist widersprüchlich. Ich selber habe davon stark profitiert; der Kita auf der anderen Seite hätten andere Arbeitskräfte mehr gebracht als dieser gutmeinende Softie ohne Lebenserfahrung, den man quasi miterziehen musste.

Und die Frage, wem damit eigentlich geholfen wird, gewann für mich mit zunehmendem Alter an Dringlichkeit. Auch Zivis erhalten Lohn beziehungsweise Erwerbsersatz. Während der ersten 124 Tage beträgt dieser 69 Franken pro Tag, danach achtzig Prozent seines normalen Einkommens. Würde ich heute noch mal einen Einsatz in einer Kita leisten, wäre ich womöglich der bestbezahlte Mitarbeiter im Betrieb.

174 Millionen Franken wendeten die Ausgleichskassen 2023 für den Erwerbsersatz im Zivildienst auf. Er ist nicht nur Pflicht, sondern auch Privileg: Meine weiteren Einsätze haben mir Einblicke in die Entwicklungszusammenarbeit und die soziale Arbeit mit Armutsbetroffenen ermöglicht. Der Staat greift so Männern unter die Arme, damit sie soziale Berufe kennenlernen können. Das ist fraglos besser, als sie zu bewaffnen. Aber ist es deswegen auch gut? Für meine Teamkolleg:innen bedeuteten meine Einsätze immer einen Mehraufwand, für mich Stress und Hass auf Bürokraten mit ihren Briefbefehlen. Für die Einsatzbetriebe war ich als Zivi besser als nichts, aber weniger wert als das Geld, das man ihnen stattdessen zur Beschäftigung von Fachkräften hätte auszahlen können.

Lukas Tobler