Daniela Klette vor Gericht: Wie einst für Stammheim
Weil sie in den neunziger Jahren der Rote-Armee-Fraktion angehört haben soll, wurde für den Prozess gegen Daniela Klette in Niedersachsen ein Hochsicherheitsgericht gebaut. Derweil bringt der Ermittlungsdrang die deutsche Polizei bis nach Basel.

«Wir kannten Daniela von früher und wussten, wie oft sie sich gegen solche unmenschlichen Haftbedingungen eingesetzt hatte.»
Rolf Brugger*
Da ist Rolf Brugger, in Funktionsjacke und mit munterem Blick wartet er vor der Basler Staatsanwaltschaft auf seine Anwältin. Ein regnerischer Nachmittag Ende August. Gleich werden ihn zwei Schweizer Bundespolizisten als Zeugen befragen. Mit im Raum: zwei Beamte vom deutschen Bundeskriminalamt (BKA). Brugger ist 74 Jahre alt. In seinem Rucksack liegt ein mobiles Sauerstoffgerät, auf das er aus gesundheitlichen Gründen angewiesen ist.
Da ist die Verhaftung in Berlin-Kreuzberg, achtzehn Monate zuvor, im Februar 2024: Vier Polizisten klingelten an der Wohnungstür von Daniela Klette. Seit 1993 hatten die deutschen Behörden nach ihr gefahndet – wegen mutmasslicher Mitgliedschaft in der Rote-Armee-Fraktion (RAF). Damals war Daniela Klette 34 Jahre alt, heute ist sie 66. Eine RAF-Mitgliedschaft wäre mittlerweile verjährt. Doch wie Daniela Behrens, 57 Jahre alt, niedersächsische Innenministerin, nach der Verhaftung klarstellte: «Wir vergessen nicht.» Der deutsche Staat vergisst nicht.
Auch Rolf Brugger in Basel hat Daniela Klette nicht vergessen. Als junge Frau war diese in der damaligen Antikriegsbewegung aktiv, demonstrierte gegen den Nato-Doppelbeschluss. Als Brugger erfährt, dass die Festgenommene in Isolationshaft sitzt, rund um die Uhr per Video überwacht, ihr der Zugang zu sämtlichen Medien, ja selbst zu einem Kugelschreiber verwehrt wird, beschliesst er, dass er sehen will, wie es ihr geht – er stellt einen Besuchsantrag: «Ich wollte nicht, dass sie allein eingemacht wird.» Aufgrund seiner chronischen Erkrankung traut sich Brugger die Reise nach Niedersachsen nicht alleine zu. Im Juni 2024 besucht er, zusammen mit einer Freundin, Daniela Klette im Frauengefängnis Vechta.
«Gleich im Anschluss an den Besuch wurden wir von BKA-Beamten unter Druck gesetzt», schildert der 74-Jährige. «Wir sollten direkt vor Ort Zeugenaussagen machen.» Es stehe gar ein Arzt bereit, falls es zu «Problemen» kommen würde. Für Brugger, auch mit Blick auf seine Gesundheit, eine Drohkulisse. «Wir bestanden darauf zu gehen.»
Zu Hause reicht er eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein. Ein paar Monate später ersucht die deutsche Generalbundesanwaltschaft die Schweiz um Rechtshilfe – auf die versuchte Einvernahme ohne amtliche Vorladung folgt nun eine offizielle Ladung in der Schweiz. «Ich soll zu Anschlägen befragt werden, die 35 Jahre zurückliegen», sagt Brunner, «und zu denen ich noch nie zuvor als Zeuge aufgeboten worden bin.»
«Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein.»
Automatische Durchsage im Gericht
Da ist der Prozess, der vor einem halben Jahr in der niedersächsischen Kleinstadt Celle begonnen hat und mittlerweile nach Verden-Eitze umgezogen ist, mit dem Vorsitzenden Richter Lars Engelke, Ende vierzig, in schwarzer Robe (siehe WOZ Nr. 22/25). An Prozesstag Nummer 27, Mitte September, ist er von seiner Richterbank aufgestanden: Er trägt blaue Plastikhandschuhe, in seiner Hand liegt eine Panzerfaustattrappe. Er hält sie sich an die Schulter und sagt etwas für Presse und Publikum Unverständliches. Lustig muss es gewesen sein, denn aus der Runde in schwarzen Roben, die ihn umringt, dringt Gelächter. Drei Nebenklagevertreter, Beirichter:innen, zwei Staatsanwältinnen. Die Verteidiger:innen der Angeklagten aus Berlin.
Und dann sitzt da Daniela Klette, die grauweissen Haare wie immer zum Dutt gebunden, mit Turnschuhen, Sportbeutel und Wasserflasche ausgerüstet. Sie beobachtet aus der Distanz die illustre Runde der Roben bei der Beweismittelsichtung.
«Dieses ‹vielleicht letzte juristische Gefecht› zwischen RAF und BRD ist eine Fiktion für die Geschichtsbücher der herrschenden Klasse und eine Adresse an alle, die sich dem Vernichtungsfeldzug des Kapitals gegen das Leben entgegenstellen.»
Stephanie Bart in «analyse & kritik», 15. April 2025
Es sind die beiden getrennten Verfahren, die sich so richtig nicht trennen lassen wollen. Zum einen ermittelt die erwähnte Bundesanwaltschaft gegen Klette: wegen dreier Anschläge, zu denen sich die RAF in den neunziger Jahren bekannt hatte. Zum anderen ist da jener Prozess, den aktuell das Landgericht Verden führt. Ein Prozess, der von Beginn an mit seiner eigenen politischen Dimension ringt, der «kein Terrorismusprozess» (Engelke) sei, dem es «einmal mehr um die Aburteilung der RAF» (Klette) gehe. Die Anklageschrift befasst sich mit Raubüberfällen auf Supermärkte und Geldtransporter zwischen 1999 und 2016, an denen Daniela Klette beteiligt gewesen sein soll. Sowie mit unerlaubtem Waffenbesitz – und: besagter Panzerfaustattrappe. Mit dem Erlös aus den Überfällen soll Klette ihr Leben im Untergrund bestritten haben; gemeinsam mit Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub, «gesondert verfolgt», weiterhin untergetaucht und ebenfalls mutmasslich Teil der dritten Generation der RAF.
«Es gäbe ja tausend Ideen, wo Geld statt für solch einen irrationalen Komplex äusserst willkommen wäre: Schulgebäude, Kitas, Schwimmbäder, Krankenhäuser, Klima- und Umweltschutz, Frauenhäuser, würdige Lebensbedingungen für Geflüchtete … Ich war schon auf einiges gefasst, aber diese Dimensionen habe ich mir nicht vorstellen können. Welche Wahnsinnigen haben das zu verantworten?»
Daniela Klette, Prozesstag Nummer 10
Da ist die ganz eigene Kulisse dieses Prozesses. Der Gerichtssaal, eine ehemalige Reithalle in Verden-Eitze, die «aus Platz- und Sicherheitsgründen» für rund 3,6 Millionen Euro umgebaut wurde – um dreizehn Überfälle in der niedersächsischen Provinz zu verhandeln, bei denen insgesamt 2,7 Millionen Euro gestohlen wurden. Nun sperrt Nato-Stacheldraht die Hochsicherheitsreithalle von den umliegenden Pferdekoppeln, dem Longierzirkel und dem Kinderspielplatz ab. Einmal in der Stunde fährt hier ein Bus. Eine ehemalige Reithalle, das passt zu Verden, der «Reiterstadt», wie sich das Städtchen nennt, wegen seiner Pferdezucht, dem Pferdesport. Noch bis Mitte November stellt das örtliche Pferdemuseum die Werke von Hartmut Hellner aus, einem der «renommiertesten Künstler im Genre internationaler Pferdemalerei» («Weser Kurier»).
Und schliesslich ist da diese Parallele, die offenbar keine sein sollte: Stammheim. Für den ersten grossen RAF-Prozess vor fünfzig Jahren – als 1975 bis 1977 Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader vor Gericht standen – war vorab «aus Sicherheitsgründen» extra ein «fensterloses Mehrzweckgebäude» gebaut worden. Für zwölf Millionen Deutsche Mark. 2023 wurde der Sondergerichtssaal abgerissen.
An den Prozesstagen Nummer 27 und 28 in Verden-Eitze sind von den Plätzen für die Presse gerade mal 6 von 55 besetzt. Mittlerweile verhandelt das Gericht – nach Stuhr 2015, Cremlingen 2016 und Duisburg 1999 – den versuchten Überfall in Wolfsburg zwischen Weihnachten und Neujahr 2015. Kurz scheinen in der Reithalle die Lebensrealitäten der beiden Geldtransporterfahrer, in Jeans und T-Shirt, auf. Es sind beklemmende Befragungen. Beide Zeugen schildern die Dienstanordnung, die den einen Fahrer anwies, im Moment des Überfalls mit dem Transporter wegzufahren – um das Geld zu sichern. Sein Kollege blieb draussen mit den maskierten Personen zurück. Eine betriebsinterne Nachbereitung des Erlebten habe es nicht gegeben, sagen beide.
«Diese Kontrollen sind nichts anderes als ein Misstrauensvotum gegen die Verteidigung.»
Ulrich von Klinggräff, Verteidiger, Prozesstag Nummer 28
Derweil sind da die kleinen Errungenschaften der Verteidigung, dreiköpfig, in schwarzen Roben: die aufgehobene Isolationshaft; die schwere Bleiweste, die Daniela Klette während der Transportfahrten nicht mehr tragen muss. Unter der Voraussetzung, dass sie es nicht mit anderen Gefangenen teilt, darf die 66-Jährige im Gefängnis zudem bald auf Durchschlagpapier schreiben – eine analoge Drucktechnik, patentiert um 1806. Vor allem aber kippte das Gericht im Juli, just vor der Sommerpause, den schwersten Vorwurf: den «versuchten Mord», den Staatsanwältin Annette Marquardt wegen der Schüsse, die bei zwei Überfällen gefallen waren, eingeklagt hatte.
Und manchmal ist das juristische Gefecht auch eines in eigener Sache, so wie an jenem Morgen, als Klettes Verteidiger:innen ihren Unmut über die Taschenkontrollen beim Einlass in die Reithalle kundtun – denen sie sich, im Gegensatz zu Staatsanwältin Marquardt, unterziehen müssen.
«Wir unterbrechen die Hauptverhandlung bis 14 Uhr. Frau Müller, ich komme gleich noch zu Ihnen …»
Richter Lars Engelke, Prozesstag Nummer 27
Und schliesslich sitzt da Ariane Müller, grauer Pony, Gerichtsreporterin für die «Junge Welt». Richter Engelke hat schon die Mittagspause einberufen, als er zur Tür in der gläsernen Trennwand eilt, hinter der Presse und Publikum sitzen. Das Landgericht würde ihrem Antrag, Daniela Klette zu besuchen, nicht im Weg stehen, versichert er Müller.
Dagegen spricht sich indes die Bundesanwaltschaft aus, die im Übrigen die siebzigjährige Reporterin als Zeugin vorgeladen hat.Es sind die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft, im Zuge derer etliche ältere Menschen als Zeug:innen aufgeboten werden. Neben Ariane Müller in Verden und Rolf Brunner in Basel auch Jürgen Schneider, ein 72-jähriger Autor. Er hatte Daniela Klette einen Brief ins Gefängnis geschickt. Daraufhin erreichte auch ihn ein Brief, wie er in der Zeitung «nd» publik machte – vom BKA. Schneider lebt mit einer koronaren Herzerkrankung, psychosoziale Belastungen können für ihn ein erhöhtes Herzinfarktrisiko bedeuten.
Ariane Müller hatte ihre Vorladung Mitte August in Berlin: «Was haben Sie die letzten fünfzig Jahre politisch alles gemacht?», sei ihre Mandantin direkt zu Beginn gefragt worden, erklärt Silke Studzinsky, Müllers Anwältin. Was denn das mit dem Verfahren zu tun habe, habe sie zurückgefragt. «Bei Aussagen zu Geschehnissen vor über dreissig Jahren besteht immer die Gefahr, dass Erinnerungen nicht korrekt sind», sagt Constanze Seelmann, Rolf Brunners Anwältin, in Basel. Sie hat an jenem verregneten Nachmittag den Beamten ein Schreiben übergeben, das ein Zeugnisverweigerungsrecht geltend macht. Die Vorladung erwecke zudem den Eindruck einer «fishing expedition» – einer unzulässigen Beweisausforschung auf gut Glück. «Aus grundrechtlicher Sicht ist das höchst problematisch», fügt Seelmann an.
Ariane Müller verwies bei der Befragung auf Paragraf 55 der deutschen Strafprozessordnung, das Recht auf Aussageverweigerung, sowie auf ihre journalistische Tätigkeit. Trotzdem drohen ihr als Zeugin nun Bussgelder – und bis zu sechs Monate Beugehaft. «Die Vorladungen sollen abschrecken, Solidarität soll im Keim erstickt werden», sagt sie. «Wer keine verwendbaren Aussagen liefern kann oder möchte, wird unter Verdacht gestellt und Haftandrohungen ausgesetzt», schreibt Jürgen Schneider im «nd». «Ich werde jede Frage», konstatiert Rolf Brunner in Basel, «wahrheitsgemäss mit meinem Schweigen beantworten!»
Ein Prinzip, das man auch an anderer Stelle kennt:
«Zu Zeugenbefragungen äussern wir uns grundsätzlich nicht.»
Sprecherin der Generalbundesanwaltschaft
* Name geändert.