Leseprobe «wobei» 4/24: Der Lurch, das Wasser und die Stadt Wenn der Axolotl doch nicht ausstirbt, überlebt vielleicht auch Mexiko-Stadt
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Die ersten Axolotl, die nach Europa kamen, waren tot. Der Forschungsreisende Alexander von Humboldt (1769–1859) hatte zwei dieser kuriosen Tierchen in Mexiko präparieren lassen und sie 1804 Georges Cuvier in Paris überreicht. Cuvier, ein angesehener Zoologieprofessor am Muséum national d’histoire naturelle, untersuchte die Kadaver eingehend und kam zum Schluss, dass es sich um eine Larve handeln müsse, die irgendwann zu einem ihm unbekannten Salamander würde. André Marie Constant Duméril dagegen, der Leiter der Ichthyologie (Fischkunde) und Herpetologie (Kunde der Lurche und Reptilien) am selben Museum, war der Überzeugung, der Axolotl sei eine neu entdeckte Art einer Gattung, zu der auch der europäische Grottenolm gehöre.
Der Axolotl, der schon damals nur im See von Xochimilco im Hochtal von Mexiko-Stadt vorkam, hat durchaus Ähnlichkeit mit einem Salamander. Die im Erwachsenenalter durchschnittlich rund 25 Zentimeter lange Amphibie – einzelne Exemplare können bis zu 40 Zentimeter lang werden – hat einen runden Kopf mit breitem Maul und weit auseinanderstehenden Äuglein, einen lang gestreckten Rumpf mit vier Beinchen, die in Fingern enden; dazu einen langen, seitlich platt gedrückten Schwanz mit einem Flossensaum. Besonders verwunderlich sind sechs fächerartige Gebilde im Nacken des Tierchens, die wie Spielzeuggeweihe aussehen. Es handelt sich dabei um Kiemen. Der Axolotl kann auf drei Arten Sauerstoff aufnehmen: durch den Mund in die Lunge, über die Kiemen und über die Haut. Die Tiere sind gewöhnlich schwarz oder grau-braun gefleckt.
Cuvier hatte insofern recht, als ein Axolotl tatsächlich die Larve eines Salamanders ist. Nur verwandelt er sich nie. Er bleibt sein Leben lang eine Larve und erreicht doch die Geschlechtsreife und kann sich fortpflanzen. Man nennt diese Besonderheit Neotenie, und sie kommt auch beim Grottenolm vor.
So traf auch Duméril eine richtige Annahme. Die beiden Pariser Wissenschaftler wussten aber nichts von einer weiteren Besonderheit des Axolotls: seiner fast unheimlichen Regenerationsfähigkeit. Reisst man ihm ein Beinchen ab, so wächst es vollwertig nach. Selbst Teile des Gehirns, der Wirbelsäule oder des Herzens kann man ihm herausschneiden. Der Axolotl ersetzt alles, was man ihm nimmt. Eben deshalb wurde er zum bevorzugten Labortier der Genforschung. In seiner Heimat in Xochimilco aber ist er akut vom Aussterben bedroht. Es gibt dort nur noch um die 500 Exemplare, und auch deren Lebensraum verschwindet.
Mexiko-Stadt geht das Wasser aus.
Vom Paradies zur Wüste
Von der riesigen Seenplatte, die einst das zentrale Hochtal von Mexiko bedeckte und in der Hunderttausende Axolotl lebten, ist nur noch ein kümmerlicher Rest übrig: das Feuchtgebiet von Xochimilco. Schon zu von Humboldts Zeiten – er forschte dort in den Jahren 1803 und 1804 – war die Wasserfläche in dieser Region erheblich geschrumpft. Der Universalgelehrte sah schon damals voraus, wie alles enden würde, und lastete die Schuld daran der Kolonialmacht Spanien an. «Wer die europäische Halbinsel durchreist hat», schrieb er in seinem «Mexico-Werk», «weiss, wie wenig Gefallen die Spanier an Pflanzungen finden, welche den Umgebungen der Städte und Dörfer Schatten geben.» Es scheine, als ob «die ersten Eroberer das schöne Tal von Tenochtitlán dem dürren, aller Vegetation beraubten Boden von Kastilien gleich zu machen gestrebt hätten».
Tenochtitlán hiess die Hauptstadt der Aztek:innen. Als der spanische Raubritter Hernán Cortéz sie 1521 eroberte, lag sie auf einer Insel im damals riesigen und heute verschwundenen Texcoco-See. Seit dieser Zeit, schrieb von Humboldt, «hat man ohne alle Überlegung die Bäume sowohl auf dem Plateau, wo die Hauptstadt liegt, als auch auf den dasselbe umgebenden Gebirgen abgehauen». So wurde die nackte Erde der brennenden Sonne ausgesetzt und vertrocknete. Der Naturforscher ahnte schon damals voraus, was heute im Hochtal von Zentralmexiko Wirklichkeit ist: Die Gegend ist zur Steppe geworden, in weiten Teilen gar zur Wüste. Wenn es irgendwo grün ist, wird künstlich bewässert – mit Wasser, das den Menschen fehlt. Die rund zwei Millionen Menschen in Iztapalapa etwa, dem am dichtesten besiedelten Bezirk von Mexiko-Stadt, werden seit 2005 nur noch mit Tanklastern versorgt. Heute ist Wasser im gesamten Grossraum rationiert.
Die spanischen Eroberer legten das Hochtal so gründlich trocken, dass die Reste des Feuchtgebiets von Xochimilco keinen natürlichen Zufluss mehr haben. Sie werden mit Wasser aus einer Kläranlage gespeist. Die darin enthaltenen Giftstoffe setzen den letzten Axolotl arg zu, zumal diese auch über die Haut atmen. In diesem Wasser zu überleben, sei für sie gerade so, «als hätten sie permanent Covid», sagt Luis Zambrano. Der Biologieprofessor an der Autonomen Nationaluniversität von Mexiko-Stadt setzt sich seit bald zwei Jahrzehnten für die Restaurierung des Lebensraums des Axolotls ein.
Das Tier hat, seit über es geschrieben wird, vor allem Männer fasziniert. Der Naturforscher Francisco Hernández de Toledo (1514/1517–1587) hat sich in der ersten bekannten Beschreibung vor allem auf sein Geschlechtsteil kapriziert. Das nämlich, schrieb er in seiner «Historia de los animales de la Nueva España», sei «eine Vulva, die derjenigen der Frau sehr ähnlich ist». Biologisch gesehen ist das ein Irrtum. Der Axolotl hat eine sogenannte Kloake, über die alle Ausscheidungen und Körpersekrete nach draussen gelangen, und die sieht bei Männchen und Weibchen gleich aus. Trotzdem wurde der Fehler fast 300 Jahre lang wiederholt. Heute spukt der Lurch als Symbol für das männliche Geschlechtsteil durch die mexikanische Literatur. So sieht der Anthropologe Roger Bartra im abgerundeten Kopf und dem langen flexiblen Körper des Axolotls ein Spermium. Er sagt, das Tier habe eine phallische Form und sei in etwa so gross wie ein erigierter menschlicher Penis. Bartra sieht im Axolotl die Verkörperung des nationalen Charakters: Genauso wie die Mexikaner:innen stecke er in einer scheinbar ewigen Jugend fest – potent, aber unfähig, sich zu entwickeln und den Sprung in die Modernität zu tun.
Als Hernán Cortéz 1519 zum ersten Mal nach Tenochtitlán kam, war er beeindruckt vom Hochtal mit seiner Seenplatte und von der Stadt. Der Grund des Tals, das an seinen weitesten Stellen rund sechzig Kilometer breit und hundert Kilometer lang ist, liegt 2250 Meter über dem Meeresspiegel. Im Westen wird es von der bis zu 3900 Meter hohen Sierra de las Cruces begrenzt, im Süden vom Vulkangürtel der Sierra Neovolcánica und im Osten von der Sierra Nevada. Fast tausend Quadratkilometer, etwa die Hälfte des Talgrunds, waren zu Cortéz’ Zeit von einer Seenplatte bedeckt. Der Texcoco in der Mitte hatte die bei weitem grösste Wasserfläche und war gleichzeitig der niedrigste Punkt. In Richtung Norden schlossen sich der Xaltocan und der Zumpango an, im Süden der Xochimilco und der Chalco. In der Regenzeit, wenn die in die Seen mündenden Flüsse Hochwasser trugen, flossen die Seen ineinander und liessen den Spiegel des Texcoco steigen. Einen natürlichen Abfluss gab es nicht, das Wasser verdunstete. Die umliegenden Hänge waren mit Eichen, Kiefern und weiteren Bäumen bewaldet.
Tenochtitlán lag auf einer Insel aus Basalt, die von den Aztek:innen mit Erde vom Seegrund erheblich erweitert worden war. Ihre Hauptstadt war schon damals eine Metropole, in der nach verschiedenen Schätzungen zwischen 150 000 und mehr als 300 000 Menschen lebten. Fast alle Verkehrswege waren Kanäle, als Verkehrsmittel diente hauptsächlich das Kanu. Nur die vier Hauptstrassen waren auf Dämmen gebaut, die zum Schutz vor Überschwemmungen oder als Verbindungswege zum Festland in den See hinaus verlängert worden waren. Gemüse, Obst und Blumen wurden auf Lastenkanus vom Xochimilco-See über ein Kanalsystem nach Tenochtitlán gebracht. In Xochimilco hatten die Aztek:innen, als sie die Gegend besiedelten, schon eine Landwirtschaft vorgefunden, die einzigartig ist: Äcker auf künstlich angelegten Inseln, die von den lokalen Bäuer:innen «Chinampas» genannt wurden.
Chinampas: Künstliche Inseln aus der Aztek:innenzeit
Chinampas wurden vermutlich im 9. Jahrhundert vom Volk der Chichimek:innen erfunden. Aus Wasserpflanzen flochten sie etwas wie riesige Matratzen, 10 bis 20 Meter breit und 100 bis 200 Meter lang. Auf diese luden sie eine etwa 8 Zentimeter dicke, nährstoffreiche Schicht aus Schlamm vom Seegrund. Solche Chinampas konnten frei über den See gleiten. Meist aber wurden sie an den Rändern mit Pfosten stabilisiert und im Seegrund verankert. Das Wasser konnte von allen Seiten in die Erde eindringen und sie feucht halten. Zwischen den Feldern entstand so ein System von Kanälen, die meist nur einen oder zwei Meter breit und eineinhalb Meter tief waren. Seither werden auf Chinampas zahlreiche Pflanzen angebaut: Salate, Spinat, Karotten, Randen, Brokkoli, Radieschen, Kürbisse und an den Rändern oft Blumen. «Xochimilco», ein Wort aus der Nahuatl-Sprache (auch bekannt als Aztekisch, das heute noch von ungefähr 1,5 Millionen Menschen gesprochen wird), bedeutet «Ort der Blumenfelder».
Nach jeder Ernte warfen die Bäuer:innen Grüngut auf die Felder und darüber eine weitere Schicht aus Sedimenten. So wurden die Chinampas immer voluminöser und die Pfosten durch Bäume ersetzt. Oft ragten die Felder fünfzig bis siebzig Zentimeter aus dem Wasser. Viele reichen heute bis zum Seegrund. Die Aztek:innen haben dieses System erheblich ausgebaut. Im See von Xochimilco entstand eine riesige Fläche von Chinampas, die Kanäle dazwischen massen zusammengenommen weit über tausend Kilometer.
Chinampas sind bis heute eine hocheffektive und biodiverse Landwirtschaftsmethode. Sie brauchen keinerlei Agrochemie. Im Feuchtgebiet von Xochimilco gibt es 180 verschiedene Pflanzen- und rund 200 Tierarten sowie verschiedenste Bestäuber. Während des Winters in Nordamerika lassen sich hier 140 Zugvogelarten nieder. In der Hitze des Sommers ist Xochimilco wegen der Verdunstung von Wasser so etwas wie eine Kühlanlage für Mexiko-Stadt. Bei Starkregen wirkt diese Fläche wie ein Schwamm und schützt die umliegenden Gegenden vor Überschwemmungen. Zudem können die Felder grosse Mengen von Kohlendioxid und Methan aufnehmen.
Heute sind von diesen Wasserstrassen nur noch gut 150 Kilometer übrig. Das Wasser ist brackig und verschmutzt. So gibt es nur noch wenige Abschnitte, in denen ein paar Hundert Axolotl überlebt haben. Seit den 1970er Jahren ist auch die Biodiversität im Wasser in Gefahr. Damals setzte die Regierung afrikanische Buntbarsche und chinesische Karpfen in den Kanälen aus, um den Bäuer:innen eine weitere Einkommensquelle zu erschliessen. Doch da die Raubfische in diesen Kanälen keine Feinde haben, vermehrten sie sich rasend schnell. Die Kanäle sind heute derart von ihnen überbevölkert, dass die Tiere viel zu klein bleiben, um verkauft werden zu können. Besonders gerne fressen diese Raubfische den Laich und die Jungtiere des Axolotls. So sind sie wesentlich mit dafür verantwortlich, dass der seltene Schwanzlurch vom Aussterben bedroht ist.
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