Epilog Gedenksteine im Valle Onsernone

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Ruth Dreifuss bei der Setzung der «Stolpersteine» zu Ehren von 1944 ermordeten Antifaschisten im August 2025
August 2025: Ruth Dreifuss bei der Setzung der «Stolpersteine» zu Ehren von 1944 ermordeten Antifaschisten. Foto: Florian Bachmann

An einem sengend heissen Tag im August steht Ruth Dreifuss im hintersten Zipfel des vielleicht abgelegensten Tals der Schweiz und hält eine Rede. Wer von Spruga, dem letzten Ort im Valle Onsernone, zu den Craveggia-Bädern will, muss erst mal eine ganze Weile durch die Hitze stapfen. Hier, wo die Thermalquellen schon vor vielen Hundert Jahren bekannt waren, hat sich an diesem Morgen eine ernsthaft-feierliche Gesellschaft zum Gedenken versammelt. Rund hundert überwiegend ältere Menschen stehen im Kreis. Begleitet von melancholischen Klängen einer kleinen Band, werden drei «Stolpersteine», Gedenkmarken für Opfer der NS-Verfolgung, in die Erde gelassen – zur Erinnerung an ein Kapitel Schweizer Geschichte, das sich zwar ins kollektive Gedächtnis des Tals, eines Refugiums für Aussteiger:innen und Intellektuelle, gebrannt hat, darüber hinaus aber nur wenig bekannt ist.

Die Geschichte, um die es hier geht, spielt im Oktober 1944. Für eine kurze Zeit existierte im Piemont ein Ort der Hoffnung: die freie Partisan:innenrepublik Ossola mit Dorfräten, Notgeld und eigener Zeitung. Doch die Hoffnung währt nur vierzig Tage, dann müssen Zehntausende Zivilistinnen und Partisanen vor den Kämpfen in Italien fliehen; einige davon wählen den Weg in die Schweiz. Die Partisan:innen, die bei den Craveggia-Bädern über die Grenze wollen, werden von den Schweizer Grenzwächter:innen erst durchgelassen, als nachrückende Nazis und faschistische Milizen auf sie schiessen. Für Federico Marescotti, 24, und Renzo Coen, 20 Jahre alt, kommt die Öffnung der Grenze zu spät: Sie sterben im Kugelhagel oder später im Spital. Der 22-jährige Adriano Bianchi überlebt knapp. «Erinnern wir uns daran, wofür sie sich engagiert haben», sagt Ruth Dreifuss, «für die Befreiung ihres Landes von der Diktatur, von der Besetzung durch den Faschismus. Ihr Kampf wurde von der Hoffnung getragen, ein demokratisches und gerechteres Italien wiederaufzubauen.»

Dreifuss, ganz in Schwarz gekleidet und mit einer Kette mit glänzendem Sonnenemblem um den Hals, hat sich akribisch auf ihren Auftritt vorbereitet. Hier, im abgeschiedenen Onsernonetal, verknüpft sie einmal mehr wie selbstverständlich das Lokale mit der Welt. Da wären einerseits das Andenken der drei jungen Partisanen und die Erinnerung an jene Tessiner:innen, die – oft gegen den Willen der Behörden oder die geltenden Gesetze – Geflüchteten über die Grenze halfen, sie mit Essen und Obdach versorgten: «Solidarität statt Gehorsam», wie Dreifuss sagt.

Da wäre aber auch die Dringlichkeit, die die Ereignisse von damals mit den Verwerfungen der Gegenwart verbindet. Ruth Dreifuss erinnert in ihrer Rede an die Genfer Konventionen, die vor 76 Jahren nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs die Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts festschrieben. Und an die Verpflichtungen, die mit diesen Konventionen einhergehen – auch jene der neutralen Schweiz. Von einer «Diskrepanz» spricht sie, «zwischen den Verpflichtungen, die allen Kriegführenden obliegen, und den Informationen, die uns täglich aus Gaza, der Ukraine, allzu selten aus dem Sudan oder aus anderen blutigen Konflikten, von denen wir nicht einmal wissen, erreichen». 1944 habe die Schweiz ein Massaker an der Grenze verhindert, heute müsse sie alles gegen die Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza tun. «Das ist keine Wahl, sondern eine Verpflichtung.»

Während die Stolpersteine einzementiert werden, lauscht Ruth Dreifuss der Musik, ihr Gesicht verrät keine emotionale Regung. Als ihr ein Mann vorgestellt wird, der 1944 an der Grenze seinen Aktivdienst leistete und heute, als 102-Jähriger, sichtlich bewegt die Reden verfolgt, kommt sie sofort ins Plaudern. Und verschwindet in der Menge, als eine unter vielen.