7. Späte Feministin Gleichstellung und Identitätspolitik

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Ruth Dreifuss im Sommer 2025 beim Interview in ihrer Wohnung
Aus Genf in die Welt:  Ruth Dreifuss im Sommer 2025 in ihrer Wohnung.    Foto: Florian Bachmann

«Was die Frauen in unserer Partei geleistet haben, ist unglaublich.» SP-Nationalrätin Tamara Funiciello kommt am Telefon aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. «Wir stehen auf den Schultern von Gigantinnen.» Ruth Dreifuss ist zweifelsfrei eine davon, die Premieren, die sie verkörpert, sind zahlreich: erste linke Frau im Bundesrat, erste Jüdin, erste Bundespräsidentin der Schweiz. So viele gläserne Decken, die sie durchbrechen musste. Wie hat sie das bloss ausgehalten? Ausgerechnet mit dieser naheliegenden Frage läuft man bei Ruth Dreifuss ins Leere.

Angesprochen auf die Hindernisse, die sie als Frau auf ihrem politischen Weg doch sicher ständig habe wegräumen müssen, winkt sie ab. Dass sie die einzige Frau war, hätten die Kollegen im Bundesrat sie nie wirklich spüren lassen. «Sie waren nur erstaunt über mein Wesen. Wenn sie eine meiner Reaktionen komisch fanden, haben sie nie gewusst, ob ich als Frau so reagiere, als Linke, als Welsche oder als Jüdin. Ich schien ihnen am Anfang ein wenig exotisch zu sein, ein Paradiesvogel», sagt sie. Im Übrigen habe es ihr auch nicht an Selbstbewusstsein gemangelt: «Ich glaube, ich habe mich gut behauptet.»

Als wäre alles gar kein Problem gewesen: Historikerin Fabienne Amlinger, die an der Uni Bern arbeitet, überraschen die Aussagen von Ruth Dreifuss nicht. «Frauen, die eine Benachteiligung durch ein patriarchales Umfeld erfahren, äussern sich häufig nicht dazu, auch um sich selbst zu schützen.» Aus ihren Interviews mit zahlreichen Politikerinnen aus der Generation von Dreifuss weiss sie zudem: «Sie wollten Probleme nicht zu fest betonen, weil das andere Frauen erst recht abgeschreckt hätte, in die Politik zu gehen.»

Dreifuss erwähnt im Gespräch auch, dass sie anfänglich keine Feministin gewesen sei. «Sozialisiert wurde ich in einer Familie, die eher traditionellen Mustern entsprach, auch wenn meine Mutter Teilzeit arbeitete. Das Patriarchat habe ich nie als etwas betrachtet, das mich persönlich betrifft.» Sie sei von der Gewerkschaftsarbeit her gekommen, von sozialen und menschenrechtlichen Fragen. Erst in der Begegnung mit Feministinnen wie Christiane Brunner habe sie Sensibilität für die spezifischen Anliegen der Frauen entwickelt. «Dank Christiane lernte ich, die beiden grossen Auseinandersetzungen, die sozialen und die feministischen, miteinander zu verknüpfen.»

Gerade wegen dieser Verknüpfung habe es wohl so lange gedauert, bis einer SP-Frau endlich ein Bundesratssitz zugesprochen worden sei, meint Historikerin Amlinger: weil sich damit Gleichstellung nicht länger nur um die politische Repräsentation der Frauen drehen würde – sondern stark auch um rechtliche, ökonomische und soziale Fragen. «Die Freisinnigen, die im Bundesrat historisch dominant waren, haben jeweils eigenmächtig darüber bestimmt, wem sie Zutritt gewährten und wem nicht.» So seien über die Zeit erst die Katholisch-Konservativen in den Zirkel der Macht eingelassen worden, dann die Sozialdemokraten. Lilian Uchtenhagen, einer ausgewiesenen linken Wirtschaftskennerin, habe man den Zutritt noch verweigert. Als erste Bundesrätin liess man nur eine Frau aus den eigenen Reihen zu: Elisabeth Kopp.

Dass sich Dreifuss in der patriarchalen Politwelt zu behaupten weiss, macht sie für viele, die nach ihr kommen, zum Vorbild. «Sie hat für die Frauen sehr viele Türen geöffnet, war deshalb auch für die Partei eine Identifikationsfigur», sagt Rebekka Wyler, die frühere Kogeneralsekretärin der SP. Als aufrecht beschreibt sie die ehemalige Bundesrätin, als bescheiden und empathisch – mit Lust an der Macht, aber wenig Selbstbezogenheit. «Wenn man mal nicht weiterwusste, konnte man sich immer fragen: Was würde Ruth Dreifuss tun?» Auch nach ihrem Rücktritt sei sie in der Öffentlichkeit präsent geblieben, «auf eine gute Art», findet Wyler. «Als Persönlichkeit steht sie auf eine gewisse Weise ausserhalb von Zeit und Raum.»

Ähnlich beschreiben es viele, die lange nach Dreifuss in die Politik einstiegen. Auch Tamara Funiciello, prominente Feministin und Kopräsidentin der SP-Frauen, sagt, Dreifuss sei immer eine Unterstützung gewesen, ohne selbst viel Raum einzunehmen. Auf den Aufruf zu einem Mobilisierungsanlass für Funiciellos Nationalratskandidatur habe sie persönlich zurückgeschrieben: Sie müsse leider absagen, weil sie nach Indonesien reise, um gegen die Todesstrafe zu agitieren. «Man hat immer das Gefühl, mit ihr auf Augenhöhe zu sein.» Ob sie zu Treffen in den Hinterzimmern der Macht eingeladen werde, habe sie nach der Wahl in den Nationalrat von Funiciello gleich als Erstes wissen wollen. Und hinzugefügt: «Du musst immer eingeladen werden!»

Sie habe immer gehörigen Respekt, wenn sie Ruth Dreifuss treffe, sagt Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone, die selbst aus Genf kommt. «Bloss keine Dummheit sagen!» Die Geschichte von deren Wahl in den Bundesrat beeindruckt sie bis heute. «Alles wirkt so frisch und frech im Gegensatz zum heutigen Bundeshaus. Da ist alles so konventionell, läuft immer nur nach den Regeln.» Dreifuss erlebe sie als sehr überlegte Person. «Sie hat eine klare Vorstellung, wie etwas sein und wie es ablaufen soll. Deshalb ist ihr auch jeglicher Opportunismus fremd.» So etwa habe sie sich beim zweiten Frauenstreik 2019 gegen einen Lohn für Hausarbeit ausgesprochen, weil das ihrer Meinung nach nur die bekannten Rollenbilder festigen würde.

Auch von einer reduktionistischen Identitätspolitik hält Dreifuss wenig. Es gehe ihr um den Kampf für «vollwertige Teilhabe» an der Gesellschaft, erklärt sie in einem der Gespräche. «Und dabei gibt es nichts Schlimmeres, als zu glauben, dass ein Mensch nur eine Identität hat, dass diese eine Identität das Leben eines Menschen definiert.» Vieles auf einmal zu sein, sich nicht auf eine Eigenschaft festlegen zu lassen, gebe auch Kraft. «Ich finde identitäre Bewegungen falsch und halte mich von ihnen fern.»