4. Betriebsanleitung Zum politischen Denken
Wie muss man sich Ruth Dreifuss eigentlich vorstellen, als sie noch nicht Bundesrätin war? Eine Suche im SRF-Archiv fördert ein besonderes Fundstück zutage: In der Sendung «Vis-à-vis», ausgestrahlt zum 1. Mai 1985, dem Tag der Arbeit, sitzen sich Gewerkschaftssekretärin Dreifuss und Moderator Frank A. Meyer auf beigen Salonstühlen eng gegenüber. Während Meyer damals noch etwas weniger blasiert auftritt als heute, erscheint einem Dreifuss überraschend vertraut. Eher langsam, aber bestimmt spricht sie in ihrer vom Französischen gefärbten St. Galler Mundart. «Vom globalen Bedürfnis nach Menschenrechten und Frieden ist es sehr rasch zu einem Bedürfnis nach Gleichgewicht und Ausgleich in der Schweizer Gesellschaft gekommen», erklärt sie ihre politische Motivation.
Spricht man sie heute auf die vielen, auch überraschenden Wendungen an, die ihre berufliche Laufbahn über die Jahre nimmt, gerät die Erzählung, die sie sonst stets zu kontrollieren weiss, für eine kurze Zeit aus dem Tritt: «Ich denke schon, dass es einen roten Faden gibt, einen sehr grossen Strang sogar.» Bei all ihren verschiedenen Tätigkeiten leite sie «wahrscheinlich die Neugier darauf, was falsch läuft für den Einzelnen. Nicht für den Einzelnen als solchen, sondern als Mitglied einer Gruppe, die von einem Unrecht betroffen ist. Unrecht kann nicht immer vermieden werden, aber es ist mir unerträglich.» Eine Revolution sei dabei nie ihr Ziel gewesen, betont sie. «Revolutionen haben nie zum Glück der Menschheit geführt, sondern oft zu Diktaturen. Nein, ich glaube nicht an historische Umstürze, sondern an das tägliche Wirken, um das Leben der einfachen Menschen zu verbessern.» Und wie würde sie sich selbst beschreiben? «Als Mitwirkerin an einer besseren Gesellschaft», sagt Dreifuss.
Die Neugier, zu erfahren, was in der Gesellschaft falsch läuft, bringt sie schon früh an Orte, die von den meisten gerne übersehen werden. Um während ihrer Ausbildung zur Sozialarbeiterin etwas Geld zu verdienen, arbeitet sie an einer Volkszählung in Genf mit. Während sie von Tür zu Tür geht, stösst sie immer wieder auf ärmliche Unterkünfte von Saisonniers, in einer Gartenlaube oder im verlassenen Kühlraum einer Metzgerei. Ein weiteres Schlüsselerlebnis hat sie während ihres Praktikums bei der Vormundschaftsbehörde: Sie soll einen achtjährigen Jungen, der zuvor schon durch diverse Gastfamilien und Institutionen gereicht wurde, in einer Klinik für Epileptiker:innen platzieren. «Da hat mich der Schlag getroffen. Dieser Ort mit fast ausschliesslich schwer kranken Erwachsenen war so klar nicht für ihn geeignet.» Der Staat habe völlig versagt. «Da habe ich beschlossen, nicht länger einzelne Sozialfälle zu betreuen. Sondern politisch aktiv zu werden, um die Institutionen und Sozialversicherungen zu reformieren.»
Zum wichtigsten Diskussionsort für eine andere Politik, zur politischen Heimat auch, wird für sie die Zeitung «Domaine Public». Seinen Anfang nimmt das Projekt ebenfalls im katholischen Wohnheim von Pater Jean de la Croix Kaelin, wo Dreifuss auf ihre späteren publizistischen Mitstreiter:innen stösst. Gemeinsam gründen sie 1963 die Zeitung, die fast sechs Jahrzehnte überdauern soll und erst 2021 eingestellt wird (ein digitales Archiv findet sich online). «Wir waren eine kleine Gruppe, die sich an der Schweizer Medienlandschaft störte.» Zu wenig hätten die Medien über die Hintergründe der Schweizer Politik berichtet, das wollte «Domaine Public» ändern. «Wir haben uns ins wirtschaftspolitische Leben der Schweiz hineingebüffelt, über die Mechanismen der Lobbyarbeit und die Beeinflussung der Politik geschrieben.» Was sie damit erreichen wollten? «Die Schweiz verändern», sagt sie lachend, «nicht die Welt, nur die Schweiz. Wir waren sehr bescheiden.» Weil sie die Funktionsweise der Macht begreifen will, beginnt Dreifuss spät gar noch ein Wirtschaftsstudium, das sie auch erfolgreich abschliessst.
Jean-Daniel Delley kam nach Dreifuss zur «Domaine Public», wurde später Staatsrechtsprofessor und lebt heute in Carouge bei Genf. Der Anspruch sei gewesen, ein unabhängiges, analytisches Blatt zu machen, erzählt er. «Militant sollten unsere Leser:innen sein, nicht die Autor:innen.» In ihren Texten sei Dreifuss wie in ihrer Politik immer vom konkreten Problem ausgegangen, für das sie nach einer Lösung gesucht habe. «Sie bewegte sich immer zwischen der Praxis und der Theorie. Leider ist es ja ein grosses Problem der Linken, dass sie zwar viele Ideen hat, aber oft keine Kenntnis der Realität.» Wer Ruth Dreifuss verstehen möchte, müsse «Domaine Public» lesen: Das findet auch Peter Bodenmann, der mit der eigenen linken Boulevardzeitung «Rote Anneliese» jahrzehntelang das Wallis aufmischte. Bodenmann meint das allerdings nicht nur positiv. «Man spürt in den Beiträgen eine äusserst vernünftige Sozialdemokratie am Werk.» Seinem Eindruck nach seien Dreifuss und ihre Mitstreiter:innen «wahnsinnig staatsgläubig» gewesen.
Claudia Kaufmann kennt die Denk- und Arbeitsweise von Ruth Dreifuss aus nächster Nähe: Sie gehörte zum engsten Mitarbeiter:innenkreis der Bundesrätin, den die Medien oft abwertend als «Rote Kapelle» bezeichneten. Und den sie damit, wohl in historischer Unkenntnis, mit dem Fahndungskennwort der Gestapo für NS-Widerstandsgruppen diffamierten. Zuvor leitete Kaufmann das eidgenössische Büro für Gleichstellungsfragen, brachte also viel feministisches Know-how ins Team. «Was Ruth auszeichnet, ist ihre ungeheure intellektuelle Neugier. Es gibt kaum ein Thema, das sie nicht interessiert, gesellschaftlich, kulturell, naturwissenschaftlich.» Trotz dieser Breite gehe sie den Sachen auf den Grund, schildert Kaufmann bei einem Treffen. «Das kennzeichnet auch ihren Arbeitsstil: Sie ist sehr analytisch, exakt, eher langsam. Sie rechnet etwas gerne bis zur dritten Stelle nach dem Komma durch. Das hat in der Zusammenarbeit auch oft viel Geduld verlangt.» Es habe sie nie interessiert, sofort eine pragmatische Lösung vorzuschlagen, stattdessen suchte sie nach einer überzeugenden.
Gibt es so etwas wie eine «Methode Dreifuss»? Rolf Zimmermann, der 1999 als persönlicher Mitarbeiter mit der Bundesrätin nach Mazedonien flog, nennt ihre «unendliche Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft». Die habe man auch im Departementsalltag gespürt: «Üblicherweise haben die Amtsdirektoren ihren Bundesräten rapportiert. Aber Ruth hat immer auch die Sachbearbeiter:innen aufgeboten, die konkret an den Dossiers arbeiteten. Das war für die Direktoren durchaus gewöhnungsbedürftig.» Überhaupt, das sei doch ihre ganz grosse Fähigkeit, meint Rebekka Wyler, die ehemalige SP-Generalsekretärin, die Dreifuss erst nach ihrer Zeit im Bundesrat persönlich kennenlernte: «Dass sie sich in die Situation aller möglichen Menschen hineindenken kann, auch wenn sie selbst gar nicht von ihren Problemen betroffen ist.»
Dreifuss habe ein ausgeprägtes Rollenbewusstsein entwickelt, meint der Historiker Jakob Tanner, was es ihr ermöglicht habe, scheinbar mühelos soziale Bewegungen, Parteiarbeit und Regierungstätigkeit zusammenzubringen. Dabei komme ihr das eigene Politikverständnis entgegen: «Sie geht gerade nicht davon aus, dass die Menschen Bedürfnisse haben, die einfach von der Politik aufgenommen werden müssen. Sondern dass sich diese Bedürfnisse erst bei der gemeinsamen politischen Betätigung entwickeln können.» Dreifuss habe einmal gesagt: «Politik muss es ermöglichen, dass die Menschen träumen können.» Das beschreibe ihr Denken und Handeln im Kern.
Eine Politikerin, die sich als Mitwirkerin begreift. Die nie nur über die Leute, sondern stets mit ihnen redet. Die direkt bei ihren Problemen anknüpft, das Unrecht aber immer in den grossen Horizont der Menschenrechte stellt. Und die an die Gestaltungskraft des Staates glaubt. Um das politische Denken, die Methode von Ruth Dreifuss zu verstehen, genügt aber vielleicht auch einfach eine Bemerkung ihrer Nichte Réjane. «Wisst ihr, was sie neben Büchern wirklich am allerliebsten liest? Betriebsanleitungen. Sie sitzt da und liest sie durch, bis sie verstanden hat, wie ein Gerät funktioniert.»