2. Die List der Geschichte Die Wahl von 1993

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Feier nach der Wahl von Ruth Dreifuss auf dem Bundes­platz am 10. März 1993
10. März 1993: ­Grosser Jubel auf dem Bundes­platz. Die frisch ­gewählte Bundesrätin zusammen mit ­Christiane Brunner. Foto: Lukas Lehmann

Die politische Schweiz ist in Aufruhr, als sich zwei Frauen auf einen Sonntagsspaziergang rund um Tartegnin begeben, ein idyllisches Dorf in den Weinbergen über dem Genfersee. Christiane Brunner, der einzigen offiziellen Kandidatin für den SP-Sitz, wurde am Mittwoch zuvor von der bürgerlich-männlichen Mehrheit im Parlament der Einzug in den Bundesrat verwehrt. Die andere Spaziergängerin ist Ruth Dreifuss, die in Tartegnin das Wochenende bei der Familie ihres Bruders Jean Jacques verbringt. Angereist im gemieteten roten Mercedes, in dem sie durch die Wirren der Wahltage navigieren, sind auch der damalige SP-Präsident Peter Bodenmann und Parteisekretär André Daguet. Gemeinsam wollen sie diskutieren, ob die SP noch einmal mit Brunner allein antreten soll – oder mit einer Doppelkandidatur Brunner-Dreifuss.

Am 3. März 1993 hat die Bundesversammlung statt Brunner den Neuenburger Staats- und Nationalrat Francis Matthey zum Bundesrat gewählt. Es ist die 100. Wahl – und zum 99. Mal wird ein Mann gekürt. «Wir hatten aber taktisch vorgesorgt und am Vortag die Reglemente studiert», erzählt Bodenmann in einem Telefonat aus seinem Hotel in Brig. Nicht noch einmal soll sich wiederholen, was der SP zehn Jahre zuvor passierte, als der Sprengkandidat Otto Stich Lilian Uchtenhagen vorgezogen wurde, der ersten offiziellen Bundesratskandidatin überhaupt. Die SP-Fraktion entscheidet diesmal, dass Matthey die Wahl noch nicht annehmen soll – und bittet das Parlament um eine Woche Bedenkzeit. Bereits am Wahltag haben sich Tausende Frauen vor dem Bundeshaus versammelt – und werden von der Polizei mit Tränengas vertrieben. Nun erhebt sich quer durch die Schweiz ein Frauenaufstand.

Ob in Sarnen oder in Zürich: Überall demonstrieren sie für Christiane Brunner, die als Anführerin des Frauenstreiks zwei Jahre zuvor grosse Popularität geniesst. Ihrer Nichtwahl vorausgegangen war eine hässliche Verleumdungskampagne: Ein anonymes «Komitee für die Rettung der Moral unserer Institutionen» hatte damit gedroht, kompromittierende Nacktfotos von Brunner zu veröffentlichen – die es gar nicht gab –, und behauptet, sie habe eine Schwangerschaft abgebrochen, was damals noch verboten war. Die Historikerin Elisabeth Joris war damals auch unter den Protestierenden. In einem Gespräch auf der WOZ-Redaktion sagt sie: «Es war eine Attacke auf Geschlecht, Herkunft und Klasse, wie sie im Buche steht.» Brunner, die sich aus prekären Verhältnissen als alleinerziehende Mutter zur Anwältin hochgearbeitet hat, wird im Parlament wegen ihrer blonden Locken abschätzig als «Serviertochter» bezeichnet.

Fernsehaufnahmen von einer Pressekonferenz, an der sich Brunner gegen die perfiden Anwürfe verteidigt, zeigen, wie Ruth Dreifuss erstmals ins Bild tritt. Sie unterstützt ihre Genfer Gefährtin im Wahlkampf, so wie sich die beiden zuvor schon auf ihrem jeweiligen Weg ins Präsidium des VPOD (Brunner) und ins Zentralsekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (Dreifuss) gegenseitig unterstützten. Es sei Gret Haller gewesen, die damalige SP-Nationalratsvizepräsidentin, die Dreifuss’ Namen für eine Doppelkandidatur ins Spiel gebracht habe, schreibt die Journalistin Catherine Duttweiler in ihrer Wahlchronik «Adieu, Monsieur» (1993).

Was bisher nicht bekannt war: Der Vorschlag war Resultat einer überparteilichen Fraueninitiative. So erzählt es 32 Jahre später Gret Haller bei einem Treffen in der Brasserie Federal im Zürcher Hauptbahnhof. Wie alle Befragten kann sie die damaligen Ereignisse noch im Tagestakt rapportieren. Haller berichtet, dass sie schon am Freitag einen Anruf der Berner FDP-Ständerätin Christine Beerli erhalten habe. Die beiden Parlamentarierinnen waren in grosser Sorge, dass die Eskalation zu einem Regierungsaustritt der SP führen könnte. Sie hätten ebenfalls die Reglemente studiert und gemerkt, dass wegen der damals noch gültigen Klausel, die nur ein Bundesratsmitglied pro Kanton erlaubte, bloss eine Person infrage kommen würde: Ruth Dreifuss, damals Mitglied des Berner Stadtparlaments, die ihre Papiere von Bern nach Genf verschieben könnte.

Gret Haller hatte 1978 einige Monate bei Ruth Dreifuss in Untermiete gewohnt, und sie hätten an langen Abenden über die verschiedenen Wege gesprochen, die sie zur SP geführt hatten. «Ruth war unter anderem aufgrund ihrer jüdischen Erfahrung Sozialdemokratin geworden, während ich als jüngste Tochter einer alleinerziehenden Mutter von vier Kindern feministisch politisiert wurde. Diese Gespräche politisierten mich nun auch sozialistisch.»

Als Haller Dreifuss anruft, um ihr die personelle Ausgangslage zu erläutern, zeigt sich diese von der Idee einer Kandidatur völlig überrascht. Und sie antwortet so, wie Haller, die ihre Hintergründe kennt, dies erwartet: «Das geht nicht, ich bin Jüdin.» Sie solle jetzt einfach nicht sofort absagen, wenn sie angefragt werde, rät ihr die politische Freundin.

Der eigentlich gewählte Matthey habe darauf bestanden, die Wahl nur dann nicht anzunehmen, wenn die SP mit einer Doppelkandidatur antrete, so erzählt es Bodenmann. Dass die Bürgerlichen wiederum eine alleinige Kandidatur von Brunner nicht akzeptiert hätten, bestätigt Franz Steinegger, damals Präsident der FDP, der sich aus seiner Anwaltskanzlei in Altdorf meldet. «Das hätten sich FDP, SVP und CVP nicht gefallen lassen. Staatspolitisch hätte das bedeutet, dass es eine Wahl ohne Auswahl gegeben hätte. Die SP hätte ihre Bundesrätin selbst bestimmt.» Und so sind es ausgerechnet zwei politische Freundinnen, die in den Genfer Weinbergen darüber diskutieren müssen, ob die SP eine Einerkandidatur riskieren soll – was wohl letztlich zum Gang in die Opposition geführt hätte. Oder ob sie beide antreten, was sie wiederum gegeneinander in Stellung bringen würde. «Wahrscheinlich wäre Christiane bereit gewesen, den Kampf alleine zu führen», erzählt Dreifuss. «Ich plädierte dafür, zu zweit anzutreten.»

«Wir waren damals spielerisch unterwegs, haben alle Szenarien durchgespielt», sagt Bodenmann heute. ­«Natürlich hat Ruth Dreifuss auch geschmeckt, dass sich ihr eine super Chance bietet.» Am Montag beschliesst die SP-Fraktion, auf ein Zweierticket zu setzen. Dreifuss sagt, sie habe stets betont, dass sie sich die Wahl von Brunner in die Regierung wünsche. Sie selbst sei sich wie ein weisses Kaninchen vorgekommen, das der Magier Bodenmann aus dem Hut gezaubert habe. Ein Kaninchen, das in der kurzen Zeit gar nicht mehr auf seine politische Positionierung oder religiöse Herkunft geprüft werden konnte.

Nach dem dritten Wahlgang wird Ruth Dreifuss am 10. März die zweite Bundesrätin der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Mit grossem Jubel werden sie und Christiane Brunner auf dem Bundesplatz empfangen. Mit dabei war auch Historikerin Elisabeth Joris: «Die Wahl war durchaus zwiespältig. Die meisten Frauen aus der feministischen Bewegung waren für Brunner. Trotzdem haben wir sofort auch Ruth unterstützt, weil sie eine Frau war. Sie hat ja im Amt die Anliegen der Frauen auch gleich aufgegriffen.» Für Bodenmann hatte der Entscheid der Bürgerlichen gegen Brunner und für Dreifuss durchaus eine klassenkämpferische Note. «Die eine kam aus dem Prekariat, die andere stammte aus gutbürgerlichem Haus.»

Dreifuss sagt: «Ich war nicht glücklich, dass ich anstelle von Christiane gewählt wurde. Aber ein paar Stunden später dachte ich: Eine tolle Gelegenheit ist es trotzdem. Also Ärmel hoch und an die Arbeit!» Christiane Brunner kann man zu den Ereignissen nicht mehr befragen, sie ist im vergangenen April verstorben. Für sie muss die Nichtwahl eine grosse Verletzung gewesen sein. Für die Frauen in der Schweiz aber – so sagte sie es später immer – habe sie mehr gebracht, als sie als Bundesrätin hätte bewirken können: Ausgelöst durch den Wahlskandal, verhalf der «Brunner-Effekt» später vielen Frauen zu politischen Ämtern.

Als «List der Geschichte» bezeichnet Paul Rechsteiner im Gespräch die Wahl von Dreifuss, die er als junger SP-Nationalrat miterlebte. «Jemanden wie Ruth gab es vorher und seither nicht mehr im Bundesrat.» Direkt aus der Gewerkschaftszentrale in die Regierung katapultiert, von einer Weltläufigkeit, die weit über die helvetischen Verhältnisse hinausging. «Das Resultat war produktiv, hat den Bundesrat auf eine neue Höhe gebracht. Alles dank einer schweizweiten Unruhebewegung.»

Die Historikerin Fabienne Amlinger hat kürzlich das Buch «Unerhört» über die ersten Politikerinnen im Bundeshaus publiziert, in dem sie auch den wiederholt skandalösen Umgang mit Frauen bei Bundesratswahlen thematisiert. «Die Wahl von Ruth Dreifuss zur zweiten Bundesrätin nach Elisabeth Kopp war ein Meilenstein für die Gleichstellung, weil es seit 1993 keine frauenlose Regierung mehr gegeben hat», betont sie am Telefon. Dennoch sei die Politik bis heute ein von Männern für Männer gemachtes Feld. Auch wenn Frauen seit fünfzig Jahren mitspielen dürften. «Umso geschickter war das Vorgehen von Brunner und Dreifuss: sich miteinander zu verschwestern, bis hin zum Symbol der Sonnenbrosche, die beide trugen. Das war ein feministischer Akt in einem patriarchalen Setting.» Die Mobilisierung der Frauenbewegung rund um die Wahl habe schliesslich auch gezeigt, wie die Politik auf der Strasse und jene im Bundeshaus, ausserparlamentarisch und institutionell, miteinander verwoben seien.

Irgendwo oben auf der Zuschauer:innentribüne sitzt am Wahltag auch Réjane, die damals 23-jährige Nichte von Ruth Dreifuss und älteste Tochter von Jean Jacques aus Tartegnin. «Es war einfach eine supergrosse Aufregung.» Nach der Wahl sei man auf den Bundesplatz und weiter in ein Restaurant gezogen. «Da haben wir auch die Patchworkfamilie von Christiane Brunner kennengelernt. Mit einigen ihrer Kinder sind wir noch viele Jahre befreundet geblieben.»