9. Was auf dem Spiel steht Das Völkerrecht und Palästina

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Für die Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt und gesehen habe, welche Lehren die Welt aus der Geschichte gezogen habe, seien die gegenwärtigen Verwerfungen nur schwer zu ertragen. So formuliert es Claudia Kaufmann, die frühere Mitarbeiterin von Ruth Dreifuss. Dass der Vormarsch des Autoritären, die Schwächung internationaler Rechtsnormen Dreifuss sehr nahegehen, beobachten viele, die sie gut kennen.

«Die Welt ist gefährlicher geworden», sagt sie selbst. «Krieg ist natürlich die allergrösste Gefahr, nicht nur für das Leben jedes einzelnen Menschen, sondern auch für die politische Ordnung, die Demokratie. Das macht mir am meisten Sorgen.» Besonders sichtbar werde die Entwicklung an den Attacken auf das Recht – sei es in Israel, wo der Angriff auf die Gerichte dem Krieg voranging, oder in den USA, wo der Präsident per Dekret einen Beschluss nach dem anderen fällt. «Eine Regierung interpretiert die Rechtsordnung in einer Weise, die die Grenzen der Demokratie immer weiter auflöst.» Dass Staaten sich sogar damit brüsten, das Recht nicht zu respektieren, damit hätte sie dann doch nicht gerechnet.

Dreifuss kämpft gegen diese Entwicklung – in diesem Jahr so öffentlichkeitswirksam wie schon lange nicht mehr: Im Mai gibt sie ihren prominenten Namen für einen offenen Brief, der den Bundesrat mit Nachdruck an seine Verantwortung für den Schutz des Völkerrechts in Gaza erinnerte. Zu den Forderungen zählen neben dem Einsatz für einen Waffenstillstand und dem ungehinderten Zugang von humanitärer Hilfe nach Gaza auch die Freilassung der israelischen Geiseln in den Händen der Hamas sowie die Bemühung um eine politische Lösung des Konflikts.

Andernorts – auch wieder in einem Brief – schlägt sie gemeinsam mit ihrem früheren Bundesratskollegen Joseph Deiss einen humanitären Korridor nach Gaza vor, durch den verletzte Zivilist:innen in Schweizer Spitäler gelangen würden. Insgesamt dreimal spricht Dreifuss an Demonstrationen, zuletzt im Juni auf dem Bundesplatz. «Wir erkennen uns nicht in der Haltung des Bundesrats wieder und fordern, dass er endlich sein Schweigen bricht. Es gibt keine Neutralität angesichts der Verletzung von Menschenrechten», sagt sie dort. Im Gespräch wiederholt sie: «Natürlich könnte der Bundesrat mehr tun! Auf Französisch sagt man ‹traîner les pieds› – er trödelt hinterher.»

Das Engagement für einen Frieden im Nahen Osten begleitet Ruth Dreifuss seit vielen Jahrzehnten. Der Staat Israel ist unwiederbringlich mit ihrer eigenen Biografie verknüpft. Als Teenager ist sie gemeinsam mit ihrem Bruder in zionistischen Jugendgruppen aktiv, darunter der kommunistischen Pfadfinderbewegung Hashomer Hatzair. In einem Lager in den Bergen spielen die Jugendlichen die «Kolonisation eines Hügels» nach, wie Dreifuss es nennt. Ruth wechselt zu den regulären Pfadfindern, weil sie derartige Spiele nicht länger mitmachen will – und tauft ihren Pfadfindertrupp «Mahatma Gandhi».

Politisch aktiv für die Rechte der Palästinenser:innen wird sie im Zuge des Sechstagekriegs. «Seit 1967 verurteile ich die Besatzung des Westjordanlands, die Kolonisierung, die Gewalt gegen die dort lebenden Menschen, das Militärregime und das Apartheidsystem, das ihnen dort aufgezwungen wurde», sagt sie in ihrer Rede vor den Demonstrant:innen in Bern. «Eine grosse Tragödie für Israelis wie Palästinenser:innen», schiebt sie im Gespräch nach. In der Genfer Juso-Zeitschrift schreibt sie bereits nach dem Sechstagekrieg einen Artikel mit dem Titel «Die Linke vor dem Frieden», in dem sie harsche Kritik übt – nicht nur an Israels Vorgehen, sondern auch an der dortigen Linken, der sie Planlosigkeit vorwirft. «Nach der Publikation lagen Sachen in meinem Briefkasten, die nicht sehr angenehm waren», erinnert sie sich.

Der Frieden im Nahen Osten, er ist ein «Lebensthema», wie sie es einmal ausdrückt. Umso folgerichtiger erscheint vor diesem Hintergrund das heutige Engagement. «Ich bekomme Briefe von verzweifelten Menschen, die mir dafür danken, weil sie sich dadurch ermächtigt fühlen. Es gibt wenig, was man tun kann. Aber wir müssen weitermachen.» Was ihr Hoffnung gibt, sind noch immer die lokalen Gruppen, in denen sich jüdische Israelis und Palästinenser:innen gemeinsam für den Frieden einsetzen, oft schon seit Jahrzehnten. «Menschen, die widerstehen. Egal wo.»