Türkisches Tagebuch: Alle drücken beide Augen zu

Nr. 5 –

Ece Temelkuran über Promis und das Präsidialsystem

24. Januar: Die Türkei ist ein lustiges Land – solange man nicht dort lebt. Jetzt haben sie eine «Kommission» erfunden. Diese soll die Ungerechtigkeiten untersuchen, die unter dem Ausnahmezustand von offizieller Seite begangen wurden.

Wenn man also wie 100 000 andere wegen Terrorvorwürfen gefeuert wird, kann man nicht mehr einfach an ein Gericht gelangen und Klage einreichen. Zuerst muss der Antrag von dieser Kommission akzeptiert werden. Und dreimal dürft ihr raten, wer die Kommissionsmitglieder sind: Die meisten arbeiten in den Ministerien. Dazu kommt: Wenn die Kommission einen Antrag nicht gutheisst, kann man auch nicht klagen. Ein juristischer Teufelskreis für all die Opfer der Hexenjagd, die nach dem fehlgeschlagenen Putsch am 15. Juli losgegangen ist.

Heute ist der Jahrestag der Ermordung von Ugur Mumcu. Er war einer der bekanntesten investigativen Journalisten des Landes, als 1993 in seinem Auto eine Bombe explodierte. Die Täter wurden nie ermittelt.

Im selben Jahr fing ich als Journalistin bei seiner Zeitung «Cumhuriyet» an. An der Wand hing Mumcus Foto und wies mir den Weg. Heute sitzen elf Journalisten, Zeichner, Redaktoren und AnwältInnen dieser Zeitung aufgrund absurder Terrorvorwürfe im Gefängnis.

25. Januar: Der Regierungssprecher Numan Kurtulmus verkündet, dass ein Ja zum Präsidialsystem das Ende des Terrors bedeuten werde. Niemand weiss, ob das eine politische Prophezeiung ist oder bloss eine Drohung gegen etwaigen Widerstand.

26. Januar: Einer der bekanntesten Fussballkommentatoren hat eine Videokampagne gestartet, die für ein Ja bei der Referendumsabstimmung wirbt. Alle, die mitmachen, fordern eine weitere Berühmtheit auf, ebenfalls ein Ja-Video zu veröffentlichen. Auch Arda Turan, der für den FC Barcelona spielt, ist mit von der Partie. Die Promis sind unter Druck. Sie wissen, dass sie keine TV-Auftritte mehr kriegen, wenn sie kein Ja-Video posten.

27. Januar: Sedat Peker, ein obskurer Mafiaboss, der die Regierung unterstützt, meldet sich ebenfalls öffentlich zu Wort und droht denjenigen, die Nein stimmen wollen. Das Wort «Blut» fällt. Willkommen in der türkischen Demokratie.

28. Januar: Die britische Premierministerin Theresa May besucht Präsident Recep Tayyip Erdogan. Die Vereinbarung zum Bau neuer Kampfflugzeuge ist unterzeichnet, es ist also alles gut.

29. Januar: Die Demonstrationen am New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen gegen Donald Trumps skandalöses Dekret, MuslimInnen aus verschiedenen Ländern die Einreise zu verwehren, sind weltweit ein riesiges Medienthema, ausser bei den türkischen Staatsmedien. All die Zeitungen, die sonst beim kleinsten Anzeichen von Islamophobie laut aufschreien, drücken hier beide Augen zu. Trump scheint ihnen näherzustehen als ihre religiösen Gefühle.

Die US-AmerikanerInnen haben es gut. Trump ist ein offensichtlicher Grobian, nicht wie all die anderen Trumps aus anderen Teilen der Welt, die chic camoufliert auf die politische Bühne treten. Was für eine Erleichterung auch, dass er keine Intellektuellen um sich schart, die ihn rechtfertigen, wie all die anderen, bevor sie ihre Masken fallen lassen. Es ist inspirierend zu sehen, wie viele SchauspielerInnen, Intellektuelle und Popstars laut Nein zu Trump sagen. Wäre es bei uns gleich gelaufen, würde sich die türkische Prominenz jetzt nicht genötigt fühlen, Ja-Videos für den Regimewechsel zu posten.

30. Januar: Etwas Schreckliches ist passiert. Es ist so schrecklich, dass niemand darüber reden mag. Sogar die AktivistInnen, die gegen Kinderschänder kämpfen, sind wie gelähmt angesichts des abgrundtief Bösen, das hier geschehen ist. Es fällt mir schwer, diesen Satz zu schreiben, aber ein erst zwei Monate altes Baby ist aufgrund von sexuellem Missbrauch gestorben.

Die Menschlichkeit selbst ist beschädigt. Wenn das Böse überhandnimmt, hat es nicht bloss eine Ursache, sondern es dringt von allen Seiten in den öffentlichen Raum ein. Wie viele andere TürkInnen bin auch ich sprachlos. Ich kann nur Nein sagen. Sonst nichts.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Daniela Janser.