Türkisches Tagebuch: Ein Werbemotto für Consultingfirmen

Nr. 21 –

Ece Temelkuran über Begriffe in postfaktischen Zeiten

16. Mai: Vor einer Woche hat die US-Regierung beschlossen, die YPG-Miliz mit Waffen auszustatten, nun ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ins Weisse Haus geeilt. Selbstverständlich war seine Ankunft in Washington spektakulär: Erdogans Bodyguards attackierten Protestierende, die sich vor dem Weissen Haus versammelt hatten – so wie sie es bei diversen Anlässen in- und ausserhalb der Türkei schon getan hatten. Zwar beeilte sich die Polizei, dem beispiellosen Actionfilm ein Ende zu setzen; das hielt die Bodyguards jedoch nicht davon ab, eine Demonstrantin zu würgen. Bilder des Vorfalls zirkulieren bereits in den sozialen Medien. «Wir sollten ihren Botschafter zum Teufel jagen. Das hier sind die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht die Türkei. Wir sind hier nicht in einem Drittweltland», sagte Senator John McCain. Nun, mit dieser Verortung wäre ich vorsichtig. Offensichtlich tut Erdogan alles, damit die Türkei als wahnsinnig erscheint.

17. Mai: Gestern habe ich Santa Maddalena den Rücken gekehrt, einem Rückzugsort für AutorInnen in der Toskana. Es ist schon beinahe schizophren, an solch wunderschönen Orten über die Türkei zu schreiben. Wo ist das Leben, und wie sieht meine Wirklichkeit aus?, fragt man sich immer wieder. Die Schönheit des Ortes lässt dich den Irrsinn vergessen, dem du in der Türkei lebend ausgesetzt wärst. Dort ist der Irrsinn Alltag, er lullt dich ein und lässt alles erträglicher erscheinen, beinahe normal.

Ich bin an die Universität London eingeladen worden, um meinen neuen Roman vorzustellen. Stattdessen erzählte ich über die Türkei und erwähnte das Buch nur in wenigen Sätzen. Man fühlt sich schuldig, über das eigene Buch zu reden, wenn gerade zwei Menschen im Hungerstreik sterben. Es ist so schmerzhaft zu wissen, dass nur eine Handvoll Leute den Widerstand von Nuriye Gülmen und Semih Özakca unterstützen (siehe WOZ Nr. 20/2017 ) – in einem Land, in dem Zehntausende per Dekret ihren Job verloren haben, weil man sie als «Staatsfeinde» stigmatisierte.

18. Mai: Ich überdenke die von mir benutzten Begriffe «aufstrebender Populismus» und «postfaktisch». Die Konzeptualisierung der Welt von heute lässt diese Phänomene nicht nur brandneu erscheinen, sondern auch magisch und unerreichbar und trägt so zu ihrem Mysterium bei. Auf dem Flughafen Heathrow habe ich die folgende Werbung gesehen: «Im Zeitalter des Postfaktischen bringt Sie unser Unternehmen der Wahrheit näher.» Wenn der Begriff zum Marketingmotto für Consultingfirmen wird, ist es dann überhaupt noch koscher, ihn als politische Kritik zu gebrauchen? Vielleicht sollten wir zum guten alten Faschismusbegriff zurückkehren, der die Dinge klarer erscheinen liesse, so entsetzlich, wie sie tatsächlich sind.

19. Mai: Ich treffe mich mit dem Journalisten Patrick Cockburn zum Mittagessen. Er hat zusammen mit seinem Sohn, der in psychiatrischer Behandlung ist, das Buch «Henry’s Demons» geschrieben, das dessen Leben verhandelt. Patrick zeigt mir Henrys Zeichnungen – und auf einmal hänge ich schluchzend über meinem spanischen Gericht. Die Bilder sind so wunderschön und menschlich. Zwischen meinen stillen Tränen muss ich mich bei Patrick entschuldigen. «Tut mir leid, ich glaube, die ganze Unmenschlichkeit um mich herum hat meine Immunität dem Menschlichen gegenüber geschwächt», sage ich.

In der Türkei ist heute Tag der Jugend und des Sports. Die Regierung ist dabei, alle von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk eingeführten Feiertage wieder abzuschaffen, also versucht der säkulare Teil der Bevölkerung, diesen Tag zu erhalten. Auf einmal ist ein unbedeutender Feiertag zum Instrument des Widerstands geworden.

20. Mai: Die Polizei hat die Redaktionsräume der Oppositionszeitung «Sözcü» durchsucht und zwei Journalisten festgenommen, obwohl es dafür keinerlei rechtliche Grundlage gab. Inzwischen befinden sich schon 160 Medienschaffende in Haft – Tendenz steigend.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt derzeit in Zagreb. Gerade ist ihr Roman «Stumme Schwäne» bei Hoffmann und Campe erschienen. An dieser Stelle führt Temelkuran bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.