Erster Weltkrieg: Hochrisikospiel mit höchstem Einsatz

Nr. 46 –

Dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging eine fundamentale Vertrauenskrise zwischen den Staaten voraus. Das Handeln der einzelnen Akteure wurde unberechenbar; Fehlwahrnehmungen und Unterstellungen führten zur Eskalation.

Die Julikrise von 1914 war die komplexeste internationale Krise des 20. Jahrhunderts. Der Monat nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajewo mündete in einen vierjährigen Weltkrieg. Das macht es zur Herkulesaufgabe, eine Analyse dazu vorzulegen, die nicht mit dem nationalen Schwarz-Weiss-Schema arbeitet. Dass dies dennoch möglich ist, zeigt das Buch des Freiburger Historikers Jörn Leonhard «Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs». Leonhard kennt, wie Christopher Clark (vgl. «Krieg als Chance» im Anschluss an diesen Text), keine längerfristigen Pläne, die auf Krieg abzielten. Auch nicht der Zufall habe im Juli 1914 das Zepter geführt, sondern Mechanismen und Handlungslogiken, die nicht mit dem guten oder bösen Willen der Akteure erklärt werden können.

1914 erschien der Krieg als Ultima Ratio für alle Beteiligten als ein legitimes Mittel der Politik. Dass daraus ein Weltkrieg werden würde, dass dazu die Schlachten bei Verdun, an der Somme und am Isonzo gehören würden, war in Berlin, Wien, Paris und St. Petersburg jedoch kaum vorstellbar. Dabei gab es durchaus Warnungen: Der deutsche Sozialdemokrat August Bebel sagte im November 1911 die Zahl der Toten mit 16 bis 18 Millionen ziemlich genau voraus.

Dass Maschinengewehre wie im Russisch-Japanischen Krieg oder im Burenkrieg eine tödliche Übermacht erzeugten, wusste man in den Generalstäben und der Politik sehr wohl. Umso wichtiger war es für die deutschen und französischen Generäle, schnell zu handeln. Es musste darum gehen, eine frühe Entscheidungsschlacht zu gewinnen. Nur so könnten sie einen langen Krieg mit den neuen todbringenden Waffen vermeiden.

Für London zählten globale Gründe

Politische Rationalität und Berechenbarkeit der Akteure waren für den Kriegsausbruch weniger entscheidend als Fehlwahrnehmungen und Unterstellungen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die deutsche Einkreisungsangst, die in der Geschichtsschreibung immer wieder für die Eskalation im Juli 1914 verantwortlich gemacht wurde. Dabei richtete sich das britisch-französische Bündnis von 1904 – zumindest aus britischer Sicht – nicht gegen Deutschland, sondern gegen Russland. Das britisch-russische Bündnis von 1907 dagegen zielte aus britischer Sicht darauf ab, den Fokus der russischen Politik auf die Dardanellen und einen Mittelmeerzugang hin- und von Asien wegzulenken. Solange sich St. Petersburg auf dem Balkan engagierte und seinen Zugang zum Mittelmeer suchte, würde es Britisch-Indien nicht gefährden. Diese Faktoren ignorierte man in Berlin freilich und vermutete darin ein vorsätzliches französisch-britisch-russisches Komplott gegen Deutschland. Dabei war vor allem der britisch-russische Interessengegensatz in Asien nicht zu übersehen. Von einem militärisch erstarkten Russland erwartete sich der britische Aussenminister Lord Grey eine Bedrohung der Nordwestgrenze Indiens, genauer: Afghanistans. Hauptsächlich diese globalen Gesichtspunkte und weniger der deutsche Überfall auf Belgien spielten bei der Entscheidung des britischen Kabinetts, in den Krieg einzutreten, die zentrale Rolle. Russland blieb damit ein Verbündeter.

Auch unbeabsichtigte Konsequenzen trugen zur Eskalation der Krise bei. Die Londoner Aussenpolitik blieb Berlin gegenüber bis in die letzten Tage vor Kriegsausbruch ambivalent: Bis zum Schluss wollte man verhandeln und vermitteln. Gleichzeitig gab man sich bündnistreu gegenüber Frankreich und Russland und warnte Deutschland vor einer Eskalation. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg schloss aus diesen unklaren Signalen das für ihn Günstigere: Britannien würde neutral bleiben. Das aber stärkte letztlich die Befürworter eines Kriegs. Alle Parteien waren damit überfordert, die falschen Wahrnehmungen 
der anderen in das eigene Handeln mit einzubeziehen.

Zu den Fehlwahrnehmungen kamen die vielen Widersprüche der Akteure in Berlin, Wien, Paris, St. Petersburg und London. Das Londoner Kabinett war sich bis zum 2. August uneinig, ob Britannien in den Krieg eintreten sollte. Dabei standen die deutschen Truppen schon in Luxemburg. In Berlin arbeiteten General Helmuth von Moltke und Reichskanzler Bethmann Hollweg gegeneinander. Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. aus dem Urlaub zurückkam und die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum vorfand, meinte er, dass nun jedweder Kriegsgrund entfallen sei.

«Überall strahlende Gesichter»

Doch da hatte Österreich Serbien bereits den Krieg erklärt. Damit konfrontiert, stellte Wilhelm II. wenigstens klar, dass er selbst daraufhin nie eine Mobilisierung befohlen hätte. Nach der russischen Generalmobilmachung knallten am 31. Juli jedoch im preussischen Kriegsministerium die Korken. Jetzt musste Deutschland handeln. Der bayerische Kriegsbevollmächtige beschrieb die Erleichterung: «Überall strahlende Gesichter, Händeschütteln auf den Gängen; man gratuliert sich, dass man über den Graben ist.» Dabei hatte auch Kaiser Franz Josef bis zuletzt gezögert, die Kriegsorder zu unterzeichnen, und konnte nur durch Gerüchte über ein Gefecht der Serben bei Temes Kubin am Nordufer der Donau von Aussenminister Leopold Berchtold zur raschen Unterschrift bewogen werden. Konsistente Politik sieht anders aus.

Das Handeln aller Beteiligten war von Risikoabwägungen bestimmt, nicht von klaren Zielen. Das eine Risiko war der Krieg. Wie weit durfte die Eskalation gehen, ohne dabei einen europäischen Krieg auszulösen? Das andere Risiko war der nationale Ansehensverlust. Welche Zugeständnisse zur Verhinderung eines Kriegs würden das eigene Land wie einen Verlierer aussehen lassen? Die gefühlte Wahrheit hatte dabei stärkere Konsequenzen als unvoreingenommene Beobachtungen. Der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg erfuhr im Juli 1914 über einen Spion in London von britisch-russischen Gesprächen über eine Marinekonvention. Als London diese Gespräche rundweg abstritt, traute Bethmann Hollweg den Briten nicht mehr. Dabei kam es am Ende gar nicht zu der Vereinbarung. Dennoch hätte der Schaden kaum grösser sein können.

Die Risikoabwägungen ergaben keine klaren politischen Orientierungen, sie blieben diffus. Die Lesbarkeit der Politik durch die anderen Mächte litt erheblich darunter. Umgekehrt eröffneten sie Raum für Unterstellungen und Missverständnisse, die schwer widerlegt werden konnten. Der Blankoscheck Kaiser Wilhelms II. an den österreichischen Gesandten Graf von Hoyos vom 6. Juli 1914 – der Österreich bei seinem Vorgehen gegen Serbien bedingungslose Unterstützung zusicherte – zielte eigentlich darauf ab, den Krieg zu lokalisieren, um so seine Ausweitung zu verhindern. Österreich sollte rasch handeln, die Sache wäre dann vorbei. Doch gelesen und verstanden wurde der Blankoscheck als deutsche Ermutigung zur Eskalation. Bedrohungsängste und Risikoszenarien verselbstständigten sich, ohne dass die deutsche Führung im September 1914 echte Kriegsziele hatte. Es ist darüber hinaus fraglich, ob es solche auch später wirklich gab.

Der Historiker Jörn Leonhard findet die tiefere Ursache für den Kriegsausbruch im massiven Vertrauensverlust unter den Mächten. Die Julikrise war eine exemplarische Vertrauenskrise, die die gegenseitige Berechenbarkeit im Umgang mit dem Kriegsrisiko fast unmöglich machte. Vertrauen stellt eine Grundkategorie politischer Ordnung dar, weil es Komplexität reduziert und im politischen Prozess Berechenbarkeit ermöglicht. Niemand kann alle Handlungen der anderen richtig einschätzen oder alle anderen kontrollieren.

Im Juli 1914 traten immer mehr Akteure auf immer mehr Handlungsebenen in Erscheinung – alle mit vagen Plänen und unklaren Signalen. Dabei realistisch zu bleiben, ohne nur noch in selektiver Wahrnehmung die eigenen Befürchtungen bestätigt zu sehen, überforderte die Akteure. Die englische Sprache unterscheidet «trust» als Vertrauen in Personen von «confidence» als Systemvertrauen. Das führt auch in dieser Sache weiter. Wenn sich «trust» in Personen auf der anderen Seite bis zum Kriegsausbruch durchaus fand, so fehlte doch «confidence» in Institutionen. Leonhard bringt die Folgen auf den Punkt: «Das Risiko der möglichen Folgen eines einmal ausgebrochenen Krieges schien vielen führenden Akteuren von 1914 offenkundig geringer als das Risiko, durch eine deeskalierte Krise einen internationalen Ansehensverlust zu erleiden.»

Mangelware Vertrauen

Jörn Leonhard kommt vor dem Hintergrund der laufenden Historikerdebatte um die Julikrise 1914 das Verdienst zu, auf die Bedeutung der gedachten und gefühlten Räume, auf fehlendes Vertrauen, auf Risiko und Zeitdruck hingewiesen zu haben. Es ist keine deutschnationale Apologetik, die Verantwortung aller Akteure für den Kriegsausbruch aufzuzeigen. Das heisst nicht, dass die Julikrise 1914 keine Botschaft an uns hätte. Die immer wieder geforderte moralisch-politische Dimension des Blicks auf den Juli 1914 liegt in der knappsten politischen Ressource von allen: Vertrauen – auch heute Mangelware.

Jörn Leonhard: «Die Büchse der Pandora» C. H. Beck Verlag. München 2014. 1157 Seiten. 53.90 Franken.

Die Schuldfrage : Krieg als Chance

In der deutschen Geschichtsschreibung gibt es um den Ersten Weltkrieg einen Katechismus. Seit den sechziger Jahren steht fest, dass Deutschland nicht nur den Zweiten, sondern auch den Ersten Weltkrieg verursacht hat. Berlins «Griff nach der Weltmacht», so der griffige Titel eines 1961 von Fritz Fischer veröffentlichten Buchs, begründet zwar nicht die deutsche Alleinschuld, aber die deutsche Hauptverantwortung am Weltkrieg.

Seit mehreren Jahren ist Bewegung in diese Frage gekommen. Die Forschung hat sich internationalisiert, historische Arbeiten bewegen sich nicht mehr in den Bahnen der Nationalgeschichte. Christopher Clark hat 2012 mit seinem Buch «Die Schlafwandler» die lange Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs als Geschichte der grössten internationalen Krise des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet (siehe WOZ Nr. 6/2014 ). Dabei brach er mit dem Katechismus.

Einen der klassischen Belege für die deutsche Hauptverantwortung am Ersten Weltkrieg lieferte der sogenannte Kriegsrat vom 8. Dezember 1912. Der Chef des Generalstabs, Helmuth von Moltke, hielt mit Blick auf die russische und französische Rüstungen einen Krieg für «unvermeidbar, je eher, je besser». In Wien und Berlin hatten die Militärs Furcht vor der «russischen Dampfwalze» und drängten auf den Krieg.

Ähnlich sah es aber auch in Frankreich aus: Staatspräsident Raymond Poincaré fürchtete, die Linke würde nach ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen im Mai 1914 das von ihm favorisierte Bündnis mit dem autokratischen Russland aufkündigen. «Besser jetzt als später» war auch seine Devise. Ein Krieg bot aussenpolitische und innenpolitische Chancen. Der russische Aussenminister Sergei Sasonow dachte ähnlich.

Siegfried Weichlein