«Anno 1914 – Die Fabrik»: Das trügerische Leben der anderen

Nr. 33 –

Mit der Dokusoap «Anno 1914 – Die Fabrik» will das Schweizer Fernsehen Vergangenheit mit LaiendarstellerInnen näherbringen. Wie soll das gehen?

Echte Arbeit, nicht ganz so echte Gefühle in der Fabrik: Milena Büchi (vorne Mitte) schneidet zu, während Marianne Müller (rechts) sich zum Nähen aufmacht. Foto: © Christian Lanz/SRF

Das Bildnis von Karl Marx im Treppenaufgang der Fabrikantenvilla ist mittlerweile abgehängt worden. Der vorherige Bewohner des Hauses hatte es hängen lassen, meinte ein Sprecher des Schweizer Fernsehens, und das Bild sei vorerst übersehen worden, als man die Villa für die Sendung «Anno 1914 – Die Fabrik» bezog.

Ein bisschen Klassenkampf gibt es dann doch in der Sendung. Obwohl von Klassenkampf natürlich nicht gesprochen wird. Aber immerhin wird in den erläuternden Zwischenpassagen auf das «markante Gefälle zwischen Arm und Reich», zwischen ArbeiterInnen- und Fabrikantenfamilie hingewiesen.

Während die Nachbarnationen beim Thema Erster Weltkrieg millionenfacher Schlächtereien und Millionen Toter gedenken müssen, ist die Schweiz wieder einmal auf die Insel der Verschonten zurückgeworfen. Womöglich ist die Sendung auch das Resultat eines schlechten Gewissens: Unvergesslich sind die berüchtigten «Diamantfeiern» 1989, als die Schweiz die Mobilmachung und damit den Beginn des mörderischen Zweiten Weltkriegs als tapfere Tat feierte. Also hat sich das Schweizer Fernsehen SRF für den Anfang des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren nicht nur heile Welt, sondern ein bisschen Sozialkritik vorgenommen.

Die Handlung spielt in einer Fabrik in Grünthal bei Bauma im Zürcher Oberland, pendelt zwischen Fabrikantenfamilie Thaler und Arbeiterfamilie Büchi, zwischen Villa und Kosthaus. Darüber darf man durchaus froh sein: Statt des aktuell zelebrierten Kulturkampfs zwischen urbaner und ruraler, zwischen offener und geschlossener Schweiz kommt wieder einmal ein anderer, ein sozialer Konflikt ins Bild.

Sommerpausen

«Scripted living history», nachgestellte Zeitreisen, füllten schon früher fürs Schweizer Fernsehen das Sommerloch. Das begann 2004 mit «Leben wie zu Gotthelfs Zeiten». Dazwischen lagen das «Réduit» und die «Pfahlbauer». Und jetzt also 1914. Drei Wochen lang wird «Anno 1914 – Die Fabrik» an allen Werktagen ausgestrahlt, jeweils fünfzehn Minuten lang, zwischen «Schweiz aktuell» und «Tagesschau». Bevölkert wird Grünthal durch fünf professionelle SchauspielerInnen, dazu neunzehn LaiInnen, die sich in einem Casting durchsetzen mussten. «Erlebnisfiguren» nennt SRF die Letzteren. Figuren sind sie in einer inszenierten Umgebung. Aber sie erleben etwas, im Gegensatz zu den professionellen SchauspielerInnen, die ja nur spielen. Die LaiInnen bringen sich real ein, echt, wahr, authentisch. Sich anderen Erlebnissen, den Erlebnissen anderer aussetzen wird auch in anderen Fernsehserien versprochen. Da sind die Berufsleute, die sich in «Jobtausch» in anderen Ländern bewähren müssen, und da ist «Frauentausch» am trashigen Ende des Spektrums. Das Format bedient das vage Unbehagen an der Gegenwart, die Unzufriedenheit im eigenen Körper. Vielleicht ist das «Echte» auch ein Gegenkonzept zur digitalen Welt.

Doch die erste Woche dieses «Histotainment» war elendiglich langweiliges Schulfernsehen aus den frühen sechziger Jahren. Die Sendung verfängt sich in ein paar selbst geschaffenen Widersprüchen. So soll der Alltag gezeigt werden. Aber Alltag ist halt zumeist langweilig, selbst für Fabrikanten. Es ist schon ein Höhepunkt, wenn ein Fotograf zur Villa kommt und zeigt, dass das Bild im Sucher auf dem Kopf steht.

Maulen

Zudem wird beim «echten Verhalten» ein bemerkenswertes Defizit sichtbar. Die LaiendarstellerInnen setzen sich mit den historischen Gegebenheiten, mit Dingen auseinander, nicht mit den Menschen und den damaligen sozialen Beziehungen. Den Webstuhl beherrschen lernen und mit wenig Nahrungsmitteln kochen: Das erfüllt mit Stolz. Wie aber sich gegenüber dem Patron verhalten? Vom vierzehnjährigen Dienstmädchen in der Villa hat man noch keinen Mucks gehört. Arbeiter Büchi bedankt sich für einen Vorschuss, indem er meint, der sei grosszügiger ausgefallen als erwartet; dass die Familie dafür in der engen Wohnung einen Kostgänger aufnehmen muss, führt auch nicht zu grossen Diskussionen: So ist sie halt, die Realität Anfang des 20. Jahrhunderts oder im Fernsehen, und nach drei Wochen ist sie vorbei.

Spannung, Reibung entsteht nicht in der vorgetäuschten Vergangenheit, sondern bloss, wenn die LaiInnen aus der Rolle fallen und sich in der Gegenwart wiederfinden. Das geschieht zuweilen der älteren Tochter der Arbeiterfamilie , die als Tuchschauerin arbeitet. Sie wird zum maulenden Teenager – nun, einem zwanzigjährigen Teenager. Milena Büchi – vom «Blick» zum Star erkoren, bevor er die Sendung als «Das grosse Gähnen» erkannte – bietet die wenigen witzigen Momente, wider die Spielanlage und unbeabsichtigt: Sie singt «Money, money», als der Vater Geld nach Hause bringt, beklagt sich, dass man sich beim Wäschewaschen die Hände schmutzig macht, erkennt schmerzlich, dass man die Wäsche nicht neben die russigen Pfannen hängen sollte, und murrt, dass sie gleich viel verdienen will wie der jüngere Bruder.

Der Komplementärbegriff zum «Erlebnis» ist die «Erfahrung». Sie ist das verarbeitete Erlebnis. Bei «Anno 1914 – Die Fabrik» lernen wir ein wenig übers Arbeiten, aber nichts über Verarbeitung.

«Anno 1914 – Die Fabrik» auf SRF 1. 
Jeden Werktag bis zum 22. August 2014.