Kultur-Zivilisation-Antithese: Gegen die «Hure» Zivilisation

Nr. 34 –

Zur moralischen Kriegsaufrüstung trat der «deutsche Kulturkrieger» Thomas Mann gegen seinen frankophilen Bruder Heinrich an.

Der Erste Weltkrieg hat die Kultur-Zivilisation-Antithese gewiss nicht hervorgebracht, denn auf dem Schlachtfeld der Begrifflichkeiten war sie schon mobilisiert, als noch kein einziger Soldat zu Schaden gekommen war: auf der einen Seite die schon im 18. Jahrhundert herausgebildete, ästhetisch verinnerlichte «moralische» deutsche Kultur, auf der anderen eine oberflächliche, «polierte» Zivilisation, ganz und gar antideutsch, also französisch.

Noch bevor die beiden Erbfeinde im Ersten Weltkrieg, dem «Grande Guerre», gegeneinander aufmarschierten, hatte sich der geweihte deutsche Kulturkrieger gegen den «jüdisch-intellektuellen Französling» und seine «Hure» Zivilisation, wie es im zeitgenössischen Jargon hiess, in Stellung gebracht: Volkstum gegen Vermassung, Aristokratie gegen Demokratie, Christen- gegen Judentum. Die binäre Achse, an der sich die Zuschreibungen orientierten, war geschlechtsspezifisch konnotiert, denn aus deutscher Sicht setzte man seine normsetzende positiv-männliche Vitalität radikal von der demokratischen «Feminisierung» der Welt ab.

Feindliche Brüder

Die zwei prominentesten Kontrahenten im Streit Kultur versus Zivilisation während des Ersten Weltkriegs waren die Brüder Thomas und Heinrich Mann, wobei es Ersterer war, der dem frankophilen «Zivilisationsliteraten» den Fehdehandschuh hinwarf: «Die deutsche Seele ist zu tief, als dass Zivilisation ihr ein Hochbegriff oder etwa der höchste sein könnte», schrieb Thomas 1914 in den «Gedanken im Kriege». Von da an polemisierte er gegen die «westliche ‹Civilisation›», die er in Bruder Heinrich verkörpert sah. Eher zurückhaltend reagierte Heinrich 1915 im in den «Weissen Blättern» erschienenen Essay über Émile Zola, der die Giftigkeit von Thomas nochmals steigerte. Die «Betrachtungen eines Unpolitischen», in der dieser als glühender Verfechter des Kriegs auftritt, waren da bereits in Arbeit, erschienen aber erst 1918. Sie waren Kampfschrift und Abrechnung mit sich selbst zugleich.

Von heute aus ist die inbrünstig verteidigte «Kultur» unschwer als rabiate Abwehrreaktion gegen die Moderne, die Auswirkungen der Industrialisierung und der Technik zu erkennen. Für die ZeitgenossInnen lieferte die Kultur-Zivilisation-Antithese ideologische Munition: Die Entente stritt angeblich für die freiheitlich-demokratische Zivilisation; die Mittelmächte führten einen sattsam bekannten Kulturkampf, inspiriert von der politischen Romantik des 19. Jahrhunderts und radikalisiert durch Nietzsche, den Thomas Mann als Vorbild begriff.

Umwertung der Werte

Den Höhepunkt erfährt dieser Streit innerhalb Deutschlands erst nach dem Krieg durch Oswald Spengler. Das in seinem «Der Untergang des Abendlandes» stilisierte Gegensatzpaar von innen und aussen, beseelt und erstarrt, Organismus und Mechanismus und so weiter mündet in einer pessimistischen Kulturanthropologie, die den rechten Kulturkritikern der Weimarer Republik den Stoff liefert. Ohne die Zweiteilung grundsätzlich infrage zu stellen, verkehrt die künstlerische Avantgarde, von Bertolt Brecht bis Arnolt Bronnen und Ernst Jünger, diesen Code dann ins Gegenteil, indem sie die Vorzeichen wechselt: Zivilisation wird nun als bewusste Trägerin des Fortschritts vorgestellt und die technische Moderne als Jungbrunnen imaginiert. Mit dieser Umwertung der Werte verkehren sich auch die geschlechtsspezifischen Vorzeichen. Die als Überbietung gefeierte Neue Sachlichkeit kommt nun viril daher, während die Kultur des «alten Europa» denunziert wird als «muffig», «verschminkt», «wie ein fettes, ungewaschenes Weib», wie es der Amerikareisende Heinrich Hauser formulierte. Das Problem dualistischen Denkens bleibt auch von der Avantgarde weitgehend unreflektiert.