Aufteilung des Nahen Ostens: Ein fatales Geheimabkommen
Die Linien des Sykes-Picot-Abkommens, das Britannien und Frankreich mitten im Ersten Weltkrieg schlossen, prägen bis heute die Weltpolitik.
Die Erinnerung an das Jahr 1916 ist aus europäischer Warte von zwei monströsen Schlachten im Norden Frankreichs geprägt, bei denen fast zwei Millionen Menschen umkamen. Doch während sich die deutschen und die französischen Truppen ab Februar 1916 vor Verdun in einem militärisch ergebnislosen Stellungskrieg gegenseitig niedermetzelten, trieb Diplomaten Frankreichs und Britanniens etwas ganz anderes um. Nach ein paar Monaten Verhandlung teilten sie im Mai 1916 in einem Geheimabkommen den Nahen Osten unter sich auf.
In Europa kommen manche Übersichtswerke zum Ersten Weltkrieg ohne ein Wort zu diesem Geheimabkommen aus. Im Nahen Osten ist «Sykes-Picot» hingegen ein weitverbreiteter, tagesaktueller Begriff – besonders in Syrien und im Irak, wo die politische Struktur, die die europäischen Mächte vor fast hundert Jahren ausheckten, wohl endgültig am Zerfallen ist.
Im November 1915 war es der Zerfall des Osmanischen Reichs, der die Fantasie der französisch-britischen Diplomatie anregte. In einem Geheimtreffen beugten sich Mark Sykes (Britannien) und François Georges-Picot (Frankreich) über eine Karte und machten sich daran, die Beute des erwarteten Siegs über die TürkInnen (die Verbündete des Deutschen Reichs waren) aufzuteilen. Sie taten dies in groben, lässig geschwungenen und zuweilen geraden Strichen. Sykes, ehemaliger Militärattaché in Istanbul und zu der Zeit Mitglied des Kriegskabinetts der konservativen britischen Regierung, soll vor der ersten Verhandlung gegenüber seinem Premierminister angekündigt haben: «Ich würde gerne eine Linie zeichnen zwischen dem e in Acre und dem letzten k in Kirkuk.»
Die Linie wurde gezeichnet und am 16. Mai 1916 im geheimen, seither als «Sykes-Picot» bekannten Abkommen offiziell verabschiedet. Die Linie zwischen dem e und dem k trennte damit das französische vom britischen «Einflussgebiet». In der Realität hiess das: Frankreich erhielt das, was heute die Osttürkei, der Nordirak, Syrien und der Libanon ist. Britannien erhielt die Herrschaft über ein Gebiet, das etwa dem heutigen Jordanien, dem Grossteil Iraks und der Region um Haifa entspricht. Beide Länder konnten die Staatsgrenzen innerhalb ihrer Einflusszone frei bestimmen. Das später Palästina genannte Gebiet wurde schliesslich unter «gemeinsame Verwaltung» gestellt.
Kurz darauf wurden auch die Verbündeten Russland und Italien an der Aufteilung der osmanischen Beute beteiligt, zumindest auf dem Papier. Nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland veröffentlichte Lenin das Geheimabkommen zusammen mit anderen Papieren aus zaristischen Archiven und verzichtete auf alle darin enthaltenen Gebietsansprüche.
Die Veröffentlichung machte im arabischen Raum rasch die Runde. Sie zeigte den Verrat insbesondere der Briten auf. Denn in den 1910er Jahren hatten sie den arabischen Führern die Unabhängigkeit versprochen, wenn diese durch eine Rebellion gegen die türkische Herrschaft das Osmanische Reich zu Fall bringen würden. Nun offenbarte das nicht mehr geheime Abkommen das Gegenteil: Eine nationale Einigung im arabischen Raum wurde durch eine willkürliche Teilung verhindert. Der vage zugesagte unabhängige arabische Staat beschränkte sich auf ein rückständiges Wüstengebiet im Bereich des heutigen Saudi-Arabien und des Jemen. Gebiete mit einer fortschrittlichen Bevölkerung, etwa um Bagdad und Basra, sollten hingegen unter fremde Mandatsherrschaft ohne jegliche Selbstverwaltung gestellt werden.
Hinzu kamen das Nichteinbeziehen der KurdInnen und konkurrierende Versprechen an Vertreter des Zionismus. Das Sykes-Picot-Abkommen begründete somit einen bedeutenden Teil der neusten Geschichte: den kurdischen Nationalismus und den Israel-Palästina-Konflikt, die autoritären Entwicklungen im arabischen Raum und nun die Auflösung der syrischen sowie irakischen Staatengebilde.