Erlesene USA (1): Die Leben hinter den Zahlen

Nr. 14 –

Barbara Ehrenreich zeigte 2001 mit «Nickel and Dimed» am eigenen Körper die Schattenseiten des Kapitalismus in den USA auf – und prägt Aktivist:innen bis heute.

Neonwerbung einer Bar in Oregon: Kellnerin welche ein Serviertablett trägt
Immer lächeln, immer locker – für eine Handvoll Dollar die Stunde: Neonwerbung einer Bar in Oregon. Foto: Chris Cheadle, Alamy

Als Barbara Ehrenreich im Jahr 1998 mit ihren Recherchen für «Nickel and Dimed» begann, war das Versprechen vom «Ende der Geschichte» zwar nicht mehr heiss, aber immer noch lauwarm. Der damalige US-Präsident Bill Clinton hatte den Sozialstaat mit der «Welfare Bill» demontiert und gleichzeitig den Pool der billigen Arbeitskräfte durch das Freihandelsabkommen Nafta vergrössert. Spekulationsblasen wurden in dieser Zeit ähnlich ignoriert, wie der «noch nie da gewesene Wohlstand» (Bill Clinton) verklärt wurde. Demokrat:innen und Republikaner:innen waren sich einig: Was der Markt nicht regelt, übernehmen Gefängnisse.

Trotz Vollzeitjob zu wenig Geld

In dieses Ambiente der hedonistischen Repression platzte die Journalistin und Aktivistin Barbara Ehrenreich mit einer schlechten Nachricht: Der Reichtum der einen hängt leider immer noch mit der Ausbeutung der anderen zusammen. Und wie sich diese Ausbeutung anfühlt, hatte sie am eigenen Körper erfahren.

Für das «Harper’s Magazine» war Ehrenreich mehrere Monate lang undercover im Niedriglohnsektor unterwegs. 2001 erschien ihr Bericht dann auch in Buchform. «Nickel and Dimed» wurde mit über 1,5 Millionen verkauften Exemplaren zum Bestseller und in diverse Sprachen übersetzt. «Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft» ist der Titel der deutschen Version. «Wir müssen Barbara Ehrenreich dafür danken, dass sie uns die Kunde von Amerikas arbeitenden Armen so klar und direkt übermittelt», lobte die «New York Times» und ernannte die marxistische Feministin gleich mal zur «führenden Reporterin der Schattenseiten des Kapitalismus». Wenn in den USA von heute wieder etwas Klassenbewusstsein zu spüren ist, dann hat das also auch mit dem Werk der inzwischen verstorbenen Ehrenreich zu tun.

Ehrenreich, die damals Ende fünfzig war, startete ihre Recherche mit einer einfachen Frage: Reicht ein Vollzeitjob mit schlechter Bezahlung zum Leben aus? In ihrer Wahlheimat Florida arbeitete sie zunächst als Kellnerin in einem Schnellrestaurant. 2,43 Dollar pro Stunde plus Trinkgeld gab es dort, so wenig, dass sie einen zweiten Job annahm, den sie aber erschöpft wieder aufgeben musste. Wohnen ging bei diesem Gehalt nur im Trailer Park. Bedienen, abräumen, putzen, lächeln, sich sputen: Ehrenreich beschreibt einen Alltag, der von Überwachung und Gängelei der Vorgesetzten geprägt ist. Während die Pharmamarke Aleve im Fernsehen wirbt, dass Schmerzen kein Grund seien, sich krankzumelden, hält Ehrenreich zynisch fest: «Als Arbeiter:innen können wir die gleiche Autorität über unsere Schmerzmittel ausüben, die unsere Chefs über uns haben.»

Nach einigen Wochen machte sich Ehrenreich nach Maine auf, wo sie bei einer Reinigungsfirma anheuerte, die sich damit rühmte, dass ihre Angestellten «auf Händen und Knien» putzten. Es schien dabei allerdings nicht um Effektivität zu gehen; dafür wären heisses Wasser und mehr Zeit notwendig gewesen. Zweck dieser Werbung sei eine «Haltung der Unterwerfung», vermutete Ehrenreich, die in der Folge erlebte, wie Hausbesitzer sie beim Putzen musterten. Des einen Schmerz ist des anderen Überlegenheitsgefühl. Auch in Maine wusste Ehrenreich bald, wer von ihren Kolleginnen Rückenleiden, wer Krämpfe und wer Arthritis hatte. Mit Galgenhumor kategorisierte Ehrenreich die Kotspuren, die sie in Toilettenschüsseln vorfand. «Ich weiss nicht, was mit der amerikanischen Oberschicht los ist, aber sie scheint ihre Schamhaare in einem alarmierenden Tempo zu verlieren.» Das Bewusstsein ihrer eigenen Position und Rolle als Besucherin verlor sie bei alldem nie.

Es gibt kein geheimes Netzwerk, das sich um die Armen kümmert, merkte Ehrenreich. Im Gegenteil: Es fallen dauernd Extrakosten an, wenn man pleite ist. Wer sich keine Wohnung mit Küche leisten kann, muss auswärts essen. Wer ohne Krankenversicherung ist, zahlt für Schmerzmittel doppelt. Wer keinen Collegeabschluss vorweisen kann, ist oft auf Jobs an der Peripherie angewiesen. «Wenn eine kerngesunde Person wie ich, die zudem ein intaktes Auto besitzt, sich im Schweisse ihres Angesichts kaum einen ausreichenden Lebensunterhalt verdienen kann, dann läuft etwas falsch, und zwar grundlegend falsch.»

Politische Resignation

Rund 25 Jahre später ist nicht allzu vieles anders. In den USA wird immer noch massenweise Elend produziert; überproportional betroffen sind Schwarze und hispanische Menschen. Während die Biden-Regierung eine Arbeitslosenquote von knapp vier Prozent feiert, leben rund 40 Millionen US-Amerikaner:innen in Armut – viele davon trotz Job. 26 Millionen Menschen haben im Krankheitsfall keinerlei Schutz; 650 000 sind wohnungslos. Auch die Zehntausende Suizide und Drogentote pro Jahr werden überwiegend in der untersten Schicht registriert. Ehrenreich machte in «Nickel and Dimed» nicht nur greifbar, wie solche Zahlen zustande kommen, sondern auch, wie das Leben hinter diesen Zahlen aussieht – und was Armut mit der Psyche macht.

«Wenn man ständig an seine niedrige Position in der sozialen Hierarchie erinnert wird», so Ehrenreich, «beginnt man, diesen bedauerlichen Status zu akzeptieren.» Ökonomische Ausbeutung führe bei vielen zu einem Minderwertigkeitsgefühl, woraus oft auch politische Resignation entstehe. Wenn man Ehrenreich liest, versteht man etwas besser, warum bei der letzten US-Präsidentschaftswahl 2020 rund achtzig Millionen Wahlberechtigte zu Hause blieben. Wenn sie denn überhaupt ein Zuhause hatten.

Keine Gewerkschaft bei Walmart

In Minnesota, ihrer letzten Station, arbeitete Ehrenreich bei Walmart in der Kleiderabteilung und räumte dort der Kundschaft hinterher. Als eine Kollegin von ihr ein heruntergesetztes Shirt kaufen wollte, schaltete sich Manager Howard ein, um den Sonderrabatt von ein paar Dollar zu verhindern. Wir brauchen eine Gewerkschaft, dachte Ehrenreich und versuchte, andere Mitarbeiterinnen zu agitieren. Ein paar Tage später schmiss sie jedoch hin, um eine Eskalation mit dem Manager zu vermeiden. Walmart hat es bis heute geschafft, jeden Organisierungsversuch zu unterdrücken. Die 1,6 Millionen Beschäftigten in den USA sind weiterhin ohne gewerkschaftliche Vertretung.

Dennoch gibt es Hoffnung. War Ehrenreich in den neunziger Jahren noch ziemlich allein mit ihrer Analyse und Haltung, sind inzwischen viele politische Debatten durchaus von einer Kritik der Klassengesellschaft geprägt. Gewerkschaften wie die United Auto Workers gehen in die Offensive und werden dabei vom Grossteil der Bevölkerung unterstützt. Die von Ehrenreich mit gegründeten Democratic Socialists of America schicken immer mehr Politiker:innen in die Parlamente. Auch das durch Ehrenreich initiierte Economic Hardship Reporting Project, das prekäre Journalist:innen unterstützt, erreicht zunehmend viele Leute.

Als Ehrenreich im September 2022 an den Folgen eines Schlaganfalls starb, schrieben etliche Aktivistinnen und Akademiker, wie stark sie von ihrer Arbeit geprägt worden seien. Hervorgehoben wurde vor allem, dass sie sich nie nur mit der Theorie begnügt hatte, sondern immer auch in Bewegungen aktiv war. Gerade das macht ihr Erbe aus.

Barbara Ehrenreich: «Nickel and Dimed». Metropolitan Books. New York 2001. 224 Seiten. 20 Franken.