Erlesene USA (6): Wo Paranoia zum System gehört

Nr. 36 –

Mit seinem Essay über Politik und Paranoia legte der Historiker Richard Hofstadter 1964 die USA auf die Couch. Der Zustand der Nation heute zeigt: Leider hilft eine Analyse nicht immer.

Donald Trump und Robert F. Kennedy Jr.
Gemeinsam gegen «Chemtrails»? Donald Trump und Robert F. Kennedy Jr., 23. August. Foto: Gage Skidmore, Imago

Kurz dachte man, Robert F. Kennedy jr. habe sich verzockt. Der siebzigjährige Anwalt war bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl zunächst als Demokrat, dann als unabhängiger Kandidat angetreten, musste nun allerdings nach sechzehn Monaten Wahlkampf, in denen er vor allem Verschwörungstheorien verbreitet hatte, wegen einstelliger Umfragewerte aufgeben. «Ich glaube nicht mehr, dass ich einen realistischen Weg zum Wahlsieg habe», sagte der Spross aus berühmter Politdynastie bei einer Pressekonferenz am 23. August.

Nur um wenige Stunden nach der Bekanntgabe seines Rückzugs eine der grössten Bühnen seines Lebens zu betreten: Zum Foo-Fighters-Lied «My Hero» begrüsste ihn Donald Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung in Arizona als «Verfechter vieler Werte, die wir alle teilen». Kennedy wiederum pries Trump als jemanden, der die Bevölkerung gegen den «Totalitarismus» verteidige, weshalb er ihn fortan im Wahlkampf unterstützen werde. Ein paar Tage später dann machte Kennedy, einer der bekanntesten Lautsprecher der Antiimpfbewegung, erneut von sich reden. Er kündigte an, «Chemtrails» bekämpfen zu wollen, also die angeblich giftigen Kondensstreifen von Flugzeugen.

Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn wachsen überall in der Welt, aber in den USA gehören sie auf besondere Weise zum System. «The Paranoid Style in American Politics» heisst das wohl bekannteste Buch zu diesem Thema, es stammt vom Historiker Richard Hofstadter und wurde erstmals 1964 als Essay im «Harper’s Magazine» veröffentlicht. Hofstadter schildert darin, wie sich der paranoide Stil – eine Mischung aus «heftiger Übertreibung, Misstrauen und konspirativer Fantasie» – in der Politik der USA festgesetzt hat.

Psychologie der Angst

Während im 18. und 19. Jahrhundert vor allem Illuminaten, Freimaurer und Jesuiten beschuldigt wurden, die USA umstürzen zu wollen, seien es heute, schrieb Hofstadter Mitte des 20. Jahrhunderts, primär Anhänger:innen des Kommunismus, die des Staatsverrats verdächtigt würden. Im Lauf der Zeit seien auch Schwarze und jüdische Menschen, Mormon:innen und Goldspekulanten, Intellektuelle und Kosmopolitinnen ins Visier gerückt. Gegen irgendjemanden müsse der «American way of life» schliesslich verteidigt werden.

Hofstadter ging mit der Übertragung eines Krankheitsbilds auf die Politik ein Wagnis ein, vor allem das der Simplifizierung. Die US-Innenpolitik während des Kalten Krieges etwa lässt sich kaum nur mit Psychologie verstehen, die «Rote Angst» war vorrangig durch machtpolitische und geostrategische Interessen begründet. Andererseits macht es gerade den Reiz dieses Buchs aus, dass sich der Autor von Denkern wie Freud und Adorno inspirieren liess. So diagnostizierte Hofstadter bei den republikanischen Hardlinern Joseph McCarthy und Barry Goldwater einen «Pseudokonservatismus» und meinte damit deren Kampf gegen alles Linke, so besessen, dass an ihrem Konservatismus nichts Bewahrendes mehr gewesen sei. Bei politischer Paranoia gehe es immer um «die Geburt und den Tod ganzer Welten», schrieb er. Im Feind werde ein «amoralischer Superman» gesehen, also auch eine Art Ideal. Durch diese Projektion erkläre sich, dass der politisch Paranoide oft so handle, wie er es dem Feind selbst vorwerfe.

Der Überläufer als Held

Da wären wir wieder bei Robert F. Kennedy Jr., der in vieler Hinsicht genau das verkörpert, was Hofstadter vor sechzig Jahren beschrieb. Kennedy machte sich während der Pandemie schon früh als Impfzweifler einen Namen. Nicht alles, was er sagt, ist aus der Luft gegriffen. Wenn er etwa vor dem Einfluss der Pharmaindustrie oder vor der Macht der fossilen Wirtschaft warnt, ist das durchaus berechtigt. Doch bei Kennedy vermischt sich rudimentäre Kapitalismuskritik mit gefährlichen Lügen und Mythen. Antidepressiva seien schuld an Amokläufen, WLAN bewirke Krebs, und die Ursachen von Aids seien noch gar nicht richtig erforscht. Dass sich Kennedy mit solchem Geraune eine bemerkenswerte Anhänger:innenschaft aufbauen konnte, liegt auch daran, dass immer mehr Amerikaner:innen den etablierten Institutionen misstrauen. Mit seinem Wechsel von den Demokrat:innen ins Trump-Lager verkörpert Kennedy nun die «Figur des Abtrünnigen», wie Hofstadter es damals nannte. Überläufer:innen seien besonders geeignet, die Gefahren vor allen anderen zu erkennen.

Während Kennedy von seiner eigenen Paranoia gequält wirkt, lebt sein neuer Mitverschwörer Trump den paranoiden Stil mit mehr Genuss. Schadenfreude, Ressentiment, Rachegelüste und Entertainment verschmelzen bei ihm. Über Barack Obama fabulierte Trump vor über einem Jahrzehnt, dass dieser gar nicht in den USA geboren sei – die «Birtherism»-Lüge bugsierte ihn damals ins politische Scheinwerferlicht. Seitdem spielt Trump gekonnt auf der Klaviatur der rechten Dämonisierung: Immigranten, Kommunistinnen, China, George Soros – alle irgendwie daran schuld, dass das Land unterzugehen droht. Niemanden scheint Trump allerdings so sehr zu hassen, wie er sich selbst grandios findet. Sekundärer Narzisst, hätte Freud gesagt. Irgendwo stecken die Kränkungen.

Die Akteur:innen politischer Paranoia haben es heute in vieler Hinsicht einfacher als früher. Studien zeigen, dass sich immer mehr Menschen in den USA einsam fühlen und dass Einsamkeit wiederum Verschwörungsglaube fördert. Social Media sind ein weiterer Faktor. Manchmal kommt dort die Paranoia von unten, wie das Beispiel QAnon zeigt: 2017 verbreitete sich über die Plattform «4chan» die Verschwörungserzählung, dass satanistische Eliten Kinder entführten, was bald darauf selbst von republikanischen Abgeordneten in die Welt getragen wurde. Meistens kommt Paranoia allerdings immer noch von oben, wie Elon Musk, Chef von X, tagtäglich demonstriert.

Wo Hofstadter falschlag

Ein paar Stunden Fox News reichen eigentlich, um kirre zu werden. Abend für Abend wird dort in schrillsten und dunkelsten Tönen der Weltuntergang beschworen: «Schulen machen unsere Kinder trans – Kamala Harris will den Kommunismus einführen – Die Universitäten sind in den Händen der Hamas – Die Wahl 2020 wurde gestohlen». Dieser fortlaufend fabrizierte Nervenzusammenbruch ist natürlich gutes Business – Fox News machte im zurückliegenden Quartal 704 Millionen Dollar Gewinn.

Hofstadters Essay ist aus heutiger Sicht auch wegen seiner Schwächen interessant. Der Historiker verortete den «paranoiden Stil» in erster Linie an den politischen Rändern, was gewiss nicht gänzlich falsch ist; schliesslich schüren vor allem Rechtsextreme den Verfolgungswahn. Viele der fatalsten Verschwörungen der letzten Jahrzehnte wurden allerdings aus der politischen Mitte heraus produziert. Man denke nur an den Irakkrieg, den grosse Teile des politischen Establishments unterstützten, obwohl die «Beweise» für angebliche Massenvernichtungswaffen gefälscht waren. Als Antwort auf politische Paranoia bietet sich also kaum die Glorifizierung einer Mitte an, die es in der ihr zugeschriebenen Vernunft nicht gibt und nie gegeben hat. Hilfreicher scheint eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Ideologien und Machtstrukturen. Marx nannte es die «rücksichtslose Kritik alles Bestehenden».

Richard Hofstadter: «The Paranoid Style in American Politics». Harper’s Magazine. November 1964.

Essay unter harpers.org.