Erlesene USA (4): Der Mythos der «Frontier»

Nr. 27 –

Wer die US-Mentalität verstehen will, sollte mit dem Werk der Historikerin Patricia Nelson Limerick beginnen, die mit «The Legacy of Conquest» 1987 die New Western History begründete.

Zug von Pferdewagen nach Westen, 1870
Foto und Mythos sind Montage: Zug nach Westen, 1870. Foto: Charles Phelps Cushing, Alamy

Im September 2023 reiste Elon Musk, Gründer des Autoherstellers Tesla, Chef der digitalen Plattform X, Raumfahrtunternehmer und reichster Mensch der Welt, nach Texas, um sich dort von einem republikanischen Kongressabgeordneten die «Krise an der Grenze» zeigen zu lassen. Wie in einer schlechten Karikatur lief Musk mit Cowboyhut und Pilotensonnenbrille herum, hielt seine Handykamera auf eine Gruppe festgenommener Geflüchteter, die hinter einem Zaun kauerten. Bereits ein paar Tage zuvor hatte er sich für den Weiterbau von Donald Trumps Mauer ausgesprochen. Nun betonte Musk, dass man zwischen kriminellen und «hart arbeitenden» Migrant:innen unterscheiden müsse. Wäre der ganze Akt nicht so menschenfeindlich gewesen, hätte man über seine Jämmerlichkeit lachen können.

Musk ist eine US-amerikanische Figur wie aus dem Bilderbuch: ein fiebriger Unternehmer, der immer weiter nach vorn will; einer, der für sich keine Grenzen akzeptiert, sie aber für andere fordert. Und wenn es zwischen 1492 und 2024 eine amerikanische Kontinuität gibt, dann ist es genau dieser Drang zum Einnehmen, Einhegen, Ausbeuten und Ausschliessen.

Das Erbe der Eroberung

Die Historikerin Patricia Nelson Limerick veröffentlichte 1987 ein Buch, das sich eines Schlüsselmoments dieser Geschichte annimmt: «The Legacy of Conquest», trotz seiner grossen Bedeutung für die Wissenschaft nie ins Deutsche übersetzt. Erzählt wird darin in faszinierenden Details, wie weisse Siedler:innen den von Indigenen bewohnten Westen Nordamerikas im 19. Jahrhundert einnahmen und auf welche Weise sich die gewaltvollen Paradigmen dieser Expansion bis in die Gegenwart fortsetzen. Limerick setzte damit einem von Abenteuerromantik und Pioniergeist dominierten Diskurs eine materialistische und multiperspektivische Analyse entgegen und begründete damit die New Western History.

Limericks wichtigste Intervention bestand darin, die «Eroberung» des Westens nicht als glorreichen Ritt darzustellen, sondern als einen «Kampf um Eigentum und Profit», der blind war gegenüber allen und allem, was vorher schon da war: Die Siedler:innen betrachteten die Landnahme als «kulturellen Imperativ», wie Limerick schreibt, «so selbstverständlich, dass es weder eine Erklärung noch eine Rechtfertigung brauchte». Das «Wilde» musste «gebändigt», das Land «ordnungsgemäss» kultiviert werden.

Nach und nach wurde der Grenzraum zwischen bereits besiedeltem Osten und vermeintlich unbelebtem Westen verschoben – die sogenannte Frontier, die sowohl als Indikator für den Erfolg der jungen Nation herangezogen wurde als auch dem US-amerikanischen Exzeptionalismus Vorschub leistete. Mit dem Frontier-Mythos bewaffnet, haben die USA auch manchen verheerenden Krieg im 20. und 21. Jahrhundert begonnen.

Besinnungsloser Boom

Zentral für die Kolonisierung des Westens war das Konzept des Privateigentums: Wer zuerst kam, durfte besitzen und bewirtschaften. Obwohl Gesetze wie der Homestead Act von 1862 die Siedler:innen unterstützten, pflegten diese eine tief sitzende Feindseligkeit gegenüber der Bundesregierung in Washington, D. C. – eine Art von Libertarismus, die bis heute in den USA weitverbreitet ist. Auch die Techgiganten aus dem Silicon Valley bauen auf eine Kombination von Steuervermeidung und Subventionen.

«The Legacy of Conquest» ist keine Geschichte von bösen Weissen gegen essenziell gute Indigene. Vielmehr schaut Limerick, die bis heute an der University of Colorado unterrichtet, mit präzisem Klassenverständnis hin. Oftmals waren es sogenannte «surplus men», Arbeitslose und Unterbezahlte von der Ostküste, die im Westen ihr Glück versuchten. Dort angekommen, waren viele gezwungen, unter prekärsten Bedingungen zu arbeiten, etwa im Kohlebergbau. Die Macht in den «extraktiven Industrien» ballte sich bei Grossunternehmen, was Einzelpersonen zu gigantischem Reichtum verhalf. Siedlungen wie Los Angeles und später Phoenix dehnten sich aus. Die Umweltverschmutzung nahm zu. Die dramatische Wasserknappheit im Westen der USA ist ein Produkt dieses besinnungslosen Booms. Mit dem Kampf um Ressourcen nahm auch der Nationalismus zu.

«Ein Mass für Unabhängigkeit und Freiheit unter männlichen Siedlern des Westens war die Fähigkeit, andere zu verachten, sich selbst als eine überlegene Kreatur zu sehen», schreibt Limerick. Es sind Sätze wie dieser, die an Elon Musk denken lassen. Die Frontier mag sich mit Kennedy zum Mond und mit Musk bis zum Mars verschoben haben – Expansion und Abschottung gehen weiter.

Patricia Nelson Limerick: «The Legacy of Conquest. The Unbroken Past of the American West». Norton Critical Editions. New York 2006. 400 Seiten. 30 Franken.