Erlesene USA (7): So geht Wahlkampf
Pionierin aus Brooklyn: Shirley Chisholm war die erste Schwarze Frau, die als rebellische Demokratin in den Kongress einzog.
Es war ein Lichtblick in trüben Zeiten, als im November 2018, mitten in Donald Trumps erster Amtszeit, vier linke Frauen in den US-Kongress gewählt wurden: Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar, Rashida Tlaib und Ayanna Pressley verkörperten eine neue Art von Politik, mit glaubhafter Nähe zur Basis, intersektional denkend, ohne Angst vor radikalen Forderungen. Sie nannten sich «Squad» (Truppe).
Die Squad hat in den vergangenen Jahren für wichtige Impulse gesorgt. Ocasio-Cortez initiierte die Resolution für einen Green New Deal. Omar und Tlaib waren die Ersten im Parlament, die sich für einen Waffenstillstand in Gaza einsetzten. Dass rechte Kräfte in ihnen Ausgeburten des Teufels sehen, ist eine Bestätigung der Arbeit. Und doch ist von der anfänglichen Euphorie heute nicht mehr viel übrig. Wenn sich der Kongress im kommenden Januar neu konstituiert, wird die kleine Gruppe zum ersten Mal seit ihrer Formierung nicht wachsen, sondern schrumpfen. Die Abgeordneten Cori Bush und Jamaal Bowman, die vor vier Jahren dazukamen, haben in diesem Sommer ihre Vorwahlen verloren.
Um Aufstieg und Fall der Squad zu verstehen und damit auch das Schicksal linker Demokrat:innen in den USA grundsätzlich, lohnt ein Blick zurück, ins Jahr 1968, als mit Shirley Chisholm die erste Schwarze Frau in der Geschichte des Landes in den Kongress einzog. «Unbought and Unbossed» hiess ihr Wahlkampfslogan, ein Versprechen, dass sie sich weder von Konzernen kaufen noch vom demokratischen Klüngel beeinflussen lasse. Weil der Spruch so gut ankam, stand er zwei Jahre später dann auch auf ihrer Autobiografie. Chisholm erzählt darin, wie man von unten ein System knackt, und auch, wie einsam und frustrierend es sein kann in diesem System.
Linker Graswurzelkampf
Chisholm wurde 1924 in Brooklyn geboren, ihre Eltern waren aus der Karibik eingewandert. Der Vater war ein linker Bäckersgehilfe, zu Hause wurde viel über Politik diskutiert. Auf dem Brooklyn College trat Chisholm der Harriet Tubman Society bei, wurde anschliessend Lehrerin und begann, sich in den politischen Klubs ihres Viertels Bedford-Stuyvesant zu engagieren. Mit dem von ihr gegründeten Unity Democratic Club wollte sie den alteingesessenen Nostrand Democratic Club herausfordern. Bewegend sind die Erzählungen aus jener Zeit auch deshalb, weil es entsprechende Infrastrukturen heute nur noch rudimentär oder gar nicht mehr gibt. Die Demokratische Partei hat an vielen Orten der USA keine physische Präsenz.
1964 kandidierte Chisholm für die State Assembly von New York, vier Jahre später dann für den Kongress. Beide Rennen gewann sie aufgrund ihrer lokalen Verwurzelung – und dank kollektiver Arbeit. Zusammen mit Freiwilligen zog sie monatelang von Tür zu Tür, nahm die Probleme der Bürger:innen auf, diskutierte mit ihnen die Situation im Viertel. So unüblich ein solcher Graswurzelwahlkampf damals war, so notwendig war er für eine Aussenseiterin wie sie. In Washington musste sich Chisholm mit sexistischen Sprüchen, rassistischen Vorurteilen und faulen Abgeordneten herumschlagen. Trotzdem gelang es ihr, eine Gegenstimme zu sein. In flammenden Reden setzte sie sich für neue Sozialprogramme und ein Ende des Vietnamkriegs ein, kämpfte für das Abtreibungsrecht und sorgte dafür, dass staatliche Gelder zu ihrer Community in Brooklyn flossen.
Ihre Diagnose, dass das politische System weder besonders repräsentativ noch demokratisch sei, gilt auch im Jahr 2024 noch. Sowieso denkt man beim Lesen von «Unbought and Unbossed» immer wieder: Wie kann es sein, dass sich so wenig getan hat?
Kompromissbereitschaft als Makel
Chisholms Geschichte ist Inspiration und Warnung zugleich. Einerseits wird eindrücklich klar, dass selbst rebellische Kandidat:innen eine Chance haben, wenn sie sich in ihrem Wahlkreis Vertrauen erarbeiten – nur so schafften es ja auch Ocasio-Cortez und ihre Squad in den Kongress. Andererseits wird deutlich, und das gilt ebenfalls bis heute, wie schwer es linke Kräfte bei den Democrats haben. Von den insgesamt 95 Gesetzesinitiativen, die Chisholm in vierzehn Jahren im Kongress einbrachte, wurde nur eine einzige verabschiedet.
Bei Netflix läuft derzeit eine Filmbiografie über Chisholm, im Mittelpunkt steht ihre Kandidatur bei den demokratischen Präsidentschaftsvorwahlen 1972. Chisholm zog sich damals den Unmut ihrer Anhänger:innen zu, weil sie ihren Kontrahenten George Wallace, einen glühenden Rassisten, nach einem Attentat im Krankenhaus besuchte. Als sie 1983 den Kongress verliess, hatten sich Teile ihrer Basis frustriert von ihr abgewandt. Zu angepasst sei sie gewesen, lautete die Kritik. Politik ist nun mal Kompromiss, antwortete Chisholm.
Shirley Chisholm: «Unbought and Unbossed». Houghton Mifflin Company 1970.