Erlesene USA (8): Andauernd prekär

Nr. 44 –

Man fällt in den USA schneller und landet härter. Das könnte Donald Trump die Präsidentschaft bringen. Dabei hätte das Land oft in seiner Geschichte eine ganz andere Richtung nehmen können.

In Pittsburgh, der zweitgrössten Stadt des wichtigen Swing States Pennsylvania, begegnete ich neulich Marty, einem 67-jährigen Mann mit rot kariertem Hemd und weissem Rauschebart. Marty sass auf einem Plastikstuhl vor seinem Haus, die Sonne schien. Im Garten standen Tische, auf denen gebrauchte Werkzeuge lagen, die er zu verkaufen versuchte. Nach Jahrzehnten als «Stage Hand», als Aufbauhelfer für Veranstaltungen, reiche seine Rente alleine nicht aus, sagte er.

Wir sprachen über Donald Trump, den Marty 2016 mal kurz in Erwähnung gezogen hatte zu wählen, ehe er realisierte, wie «egoistisch und unredlich» dieser sei. Wir sprachen über Kamala Harris, der Marty am 5. November seine Stimme geben wird, obwohl er nicht gänzlich von ihr überzeugt sei. Und wir sprachen über die grundsätzlichen Probleme in den USA, die aus seiner Sicht vor allem mit der ungerechten Verteilung der Ressourcen zu tun haben. Marty erzählte, dass er an Diabetes leide und langsam erblinde, seine Krankenkassenbeiträge seien stark gestiegen. Er wirkte nicht verbittert, aber in der Haltung bestimmt. «Die Wirtschaft funktioniert in diesem Land einfach nicht.»

Wenn diese Wahl ein bestimmendes Thema hat, dann sind es die hohen Lebenshaltungskosten. In einer Umfrage nach der nächsten gibt die US-amerikanische Bevölkerung «Inflation» als grösste Sorge an. Vor allem Nahrungsmittel und Sprit sind heute deutlich teurer als noch vor vier Jahren, Mietpreise und Gesundheitskosten steigen schon viel länger. Nahezu jedes Gespräch mit Wähler:innen und Nichtwähler:innen landet irgendwann bei diesem Problem. Sollte Trump gewinnen, wird es nicht unwesentlich damit zu tun haben, dass viele Menschen – anders als Marty – die Schuld für die Preisschocks bei der Demokratischen Partei sehen. Obwohl die Preise bereits in den letzten Monaten der Trump-Amtszeit anfingen zu steigen und obwohl die allgemeine Inflationsrate seit Sommer 2022 wieder gesunken ist, bleibt das Gefühl, dass seit und durch Biden alles ausser Kontrolle sei.

Das Problem sitzt jedoch noch tiefer. Wer verstehen will, warum Inflation alle anderen Themen in diesem Wahlkampf überschattet, muss sich bewusst machen, dass die Wirtschaft auch im Normalzustand für Millionen von Menschen nicht funktioniert. Für viele Amerikaner:innen ist es mehr als nur ein Störfaktor, wenn ein Dutzend Eier plötzlich 3 Dollar statt 1,50 kostet, wenn der Vermieter fünf Prozent auf die Miete aufschlägt, wenn Versicherungen ihre Tarife erhöhen – es ist eine Bedrohung ihrer Existenz.

Über die Hälfte aller Menschen in den USA können laut Umfragen keine unerwartete 500-Dollar-Rechnung aus eigenen Mitteln stemmen. Vier von fünf Haushalten sind verschuldet. Rund 30 Millionen Menschen haben keinerlei Krankenversicherung. Allein in New York City sind mindestens 130 000 Menschen wohnungslos. Die Zahl der «Tode aus Verzweiflung» (Drogenüberdosen und Suizide) ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen. Und selbst Menschen ohne akute Geldprobleme sind damit konfrontiert, dass in den USA sozialdemokratische Standards und Sicherheitsnetze fehlen, wie es sie in vielen europäischen Ländern gibt, etwa eine staatlich gesicherte Elternzeit, ein Kündigungsschutz oder eine Krankenversicherungspflicht. Man fällt in diesem Land schneller und landet härter. Man arbeitet mehr und schläft schlechter.

Nichts Neues, liesse sich an dieser Stelle einwerfen, die USA sind nun mal das Land des entfesselten Kapitalismus. Doch das erklärt die konkreten Zustände ja noch nicht. Wie also sind die amerikanischen Klassenverhältnisse gewachsen? Woran liegt es, dass die grosse Masse der Menschen so viel Unsicherheit ausgesetzt und die Oberschicht so dermassen entkoppelt ist?

Kapitalistische Revolution

Der 2022 verstorbene Historiker Mike Davis ging diesen Fragen in seinem Debütwerk «Prisoners of the American Dream» nach, das 1986 veröffentlicht und im gleichen Jahr unter dem Titel «Phoenix im Sturzflug» ins Deutsche übersetzt wurde. Für Davis als Marxisten war klar, dass soziale Fortschritte nicht einfach «mit der Zeit» kommen, sondern erkämpft werden müssen. Er untersuchte deshalb, warum die entsprechenden Kräfte, nämlich Gewerkschaften und linke Parteien, in den USA immer wieder damit gescheitert sind, stabile Strukturen und ein dauerhaftes Klassenbewusstsein aufzubauen. Die 330 Seiten sind so tief recherchiert und dicht geschrieben, dass man das Gefühl hat, zehn Bücher auf einmal zu lesen.

Bereits die Geburt der Vereinigten Staaten sei von Konservatismus geprägt worden, so Davis. Während die anderen grossen Revolutionen auf die Energie von Plebejer:innen, also einfachen Bürger:innen, zurückgegangen seien und sich gegen den Feudalismus und die Aristokratie gerichtet hätten, sei die Amerikanische Revolution ein «einzigartiger Prozess der kapitalistischen nationalistischen Befreiung» gewesen. Auch in der Folge sei die Entwicklung der USA von Plantagenbesitzern, Kleinbauern und Geschäftsmännern dominiert worden, denen es in erster Linie um die Sicherung des eigenen Besitzes gegangen sei.

Davis erklärt, dass es im Lauf der US-Geschichte immer wieder Kräfte der Mittelschicht gewesen seien, die durch ihr Beharren auf «kleinbürgerliche Akkumulation und unternehmerischen Chancen» die Hegemonie des Kapitals bewahrt hätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg etwa waren es primär suburbane, weisse Familien, die sich für Segregation und gegen Steuererhöhungen einsetzten, um so den Ausbau des Sozialstaats zu verhindern. Die Kontinuitäten, die Davis herausarbeitet, sind faszinierend, wobei er klarmacht, dass nichts davon unvermeidbar oder vorbestimmt, nichts «essenziell amerikanisch» sei. Davis führt von Ära zu Ära, von Region zu Region und von Struggle zu Struggle aus, durch welche Methoden Grundbesitzer, konservative Politiker und Unternehmer ihre Vormachtstellung sicherten.

Ein bemerkenswertes Beispiel von vielen: Ab den fünfziger Jahren profitierten die grossen Autohersteller aus Detroit davon, dass die Bundesregierung Interstate Highways in den Süden des Landes bauen liess. Diese neuen Infrastrukturen machten es für die Unternehmen einfacher, Fabriken in Regionen mit laxerem Arbeitsschutz zu errichten. Bis heute dürfen Gewerkschaften in Bundesstaaten, in denen das «Right to work»-Gesetz gilt, keine verpflichtenden Mitgliedsgebühren verlangen. Ebenfalls bis heute schüchtern sogenannte «Union busting»-Firmen Arbeiter:innen ein, die sich organisieren.

Davis setzte sich auch gründlichst mit den Fehlern der «eigenen Seite» auseinander. Er beschreibt, wie sich Gewerkschaften, linke Kleinparteien und progressive Bewegungen immer wieder auf Kompromisse mit den Kräften des US-Establishments einliessen und dadurch revolutionäres Potenzial vergaben. Ein markantes Beispiel sei der Treaty of Detroit im Jahr 1950 gewesen: Der Konzern General Motors und die Gewerkschaft United Auto Workers einigten sich damals auf einen neuen Vertrag, der zwar die Arbeitsbedingungen partiell verbesserte, aber zugleich einen Streikverzicht festhielt. Dieses Abkommen habe das Ende der New-Deal-Ära eingeleitet, so Davis.

Scharfe Kritik formuliert er auch an den Democratic Socialists of America (DSA), die bei den Vorwahlen 1984 nicht die linke Regenbogenkoalition von Jesse Jackson, sondern den moderaten Kandidaten Walter Mondale unterstützten. Eine symptomatische Entscheidung, wie Davis sagt. Statt eigene Strukturen zu stärken, hätten sich linke Organisationen wie die DSA und Gewerkschaftsverbände wie die AFL-CIO viel zu oft an die Führungsriege der Democrats geschmiegt. Auf diese Weise sei auch das bis heute existierende De-facto-Zweiparteiensystem zementiert worden.

Rassismus als Konstante

Als Urübel macht Davis aus, dass die Arbeiter:innenklasse immer wieder gespalten wurde – und dass sie sich immer wieder spalten liess. Die Trennung verlief zwischen weissen und nichtweissen Arbeiter:innen, zwischen Staatsbürger:innen und Undokumentierten, männlichen und weiblichen, «qualifizierten» und «ungelernten», katholischen und protestantischen, städtischen und ländlichen sowie organisierten und unorganisierten Beschäftigten. Davis zeichnet vom 18. Jahrhundert über die Zeit des New Deal bis in die neoliberale Gegenwart nach, wie vor allem Schwarze Amerikaner:innen ausgeschlossen und damit Möglichkeiten einer Stärkung der gesamten Arbeiter:innenklasse vergeben wurden. Ein weitverbreiteter Rassismus und ein von oben eingehämmerter Individualismus verhinderten «Massensolidarität». So blieb ein grosser Teil der Arbeiter:innen «Gefangene des amerikanischen Traumes».

Es ist bemerkenswert, wie präzise Davis damals, Mitte der achtziger Jahre, Entwicklungen vorhersah, die die US-amerikanische Politik und Gesellschaft heute prägen. Er prognostizierte eine Militarisierung der mexikanischen Grenze, Deregulierungen der Wirtschaft und einen «neuen ökonomischen Nationalismus», warnte vor einer Neoliberalisierung der Demokratischen Partei und sah aus dem Reaganismus einen «hausgemachten Faschismus» wachsen. Man braucht nicht viel Fantasie, um vieles davon im diesjährigen Wahlkampf zu erkennen.

Während die Unterschiede zwischen Harris und Trump in entscheidenden Bereichen gross sind, fallen eben auch die Gemeinsamkeiten auf: Beide zentrieren in ihrer Politik die Interessen der suburbanen Mittelschicht. Beide pochen auf «America first». Und niemand kann behaupten, wirklich für die Arbeiter:innenklasse zu kämpfen.

Mike Davis: «Prisoners of the American Dream». Verso Books. New York 2005. 332 Seiten. 39 Franken.