Wie wir leben werden (5): Im Eldorado der Becherpilze

Nr. 29 –

Letzten Sommer brannte im Wallis der Wald. Warum der Kanton trotzdem nicht aufforstet – und wie der Waldbrand bei der Klimaanpassung helfen könnte: ein Spaziergang mit Forstingenieurin Joanna Reim.

Foto der Forstingenieurin Joanna Reim
Über fünfzig Hektaren Wald verbrannten: Forstingenieurin Joanna Reim im Walliser Oberried.

Kaum zu glauben, was Bäume aushalten. Wie dieser Ahorn: Unten ist er verkohlt, die Rinde blättert ab, Ameisen krabbeln über den nackten Stamm. Aber er trägt hellgrüne Blätter. Auch die Lärche mit der pechschwarz verbrannten Rinde hat frische Nadeln. «Sie treiben jetzt aus, aber es ist unklar, ob sie überleben», sagt Forstingenieurin Joanna Reim. Oft würden verbrannte Bäume erst nach zwei, drei Jahren absterben.

Oberried im Wallis, 1500 Meter über Meer. Als letzten Sommer oberhalb des Dorfes Bitsch der Wald brannte, war hier das Hauptquartier der Feuerbekämpfung. Helis tankten Wasser aus einem mobilen Becken, Kleinbusse brachten Journalist:innen auf den Berg. Der Brand brach am 17. Juli aus, über fünfzig Hektaren Wald verbrannten. Erst Ende August waren die letzten Glutnester gelöscht (siehe WOZ Nr. 31/23). Inzwischen ist die Brandursache geklärt.

Anfang Juni ist es ruhig hier oben. Ein paar Schwarznasenschafe dösen im Schatten. Die Wiesen leuchten gelb, pink und blauviolett, Insekten summen und zirpen. Darüber ragen schwarze Baumskelette in den Himmel. Der ganze Wald oberhalb von Oberried ist verkohlt, die Wanderwege zur Riederalp sind gesperrt – und bleiben es wohl noch lange.

Strom, Schüsse, Feuer

Zuerst fielen Schüsse, dann brannte der Wald: Wie die Walliser Ermittlungsbehörden Anfang Woche mitteilten, schoss eine unbekannte Täterschaft am 17. Juli 2023 mutmasslich mit einer Langwaffe – üblich in der Jagd oder im Sportschiessen – mehrfach und vorsätzlich auf die Leiterseile der Stromhauptleitung in der Gemeinde Bitsch. Einer der Schüsse durchtrennte den Kupferdraht der Abzweigeleitung bei einem Mast. Das führte zu einem Kurzschluss, dieser wiederum zu einer Überhitzung. In der Folge riss das Seil und fiel zu Boden. Wie bei einem Kurzschluss üblich, versuchte man im Elektrizitätswerk Massa, die Leitung manuell wieder einzuschalten. Dabei kam es zu einem Lichtbogen, der das Aluminiumseil, das am Boden lag, zum Schmelzen brachte. Die trockene Vegetation fing sofort Feuer.

Wer selber keimt, lebt länger

Joanna Reim stammt aus dem Aargau, hat an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften studiert und als Vertiefung Wald- und Landschaftsmanagement gewählt. Im Frühling vor einem Jahr trat sie ihre Stelle beim Kanton Wallis an. «Mir gefällt, dass meine Arbeit so vielseitig ist», sagt sie. Forstrechtliche und forstpolizeiliche Fragen gehören genauso dazu wie die Planung von Waldreservaten, «und das Zentralste ist die Schutzwaldbewirtschaftung». Auf 87 Prozent der Walliser Waldfläche steht die Schutzfunktion im Mittelpunkt.

Reim führt in den verbrannten Wald hinein. So tot, wie er auf den ersten Blick aussieht, ist er nicht. Ein Eichhörnchen flüchtet hinter einen Stamm, am Boden wachsen überall hellbraune Becherpilze, und wer genau hinschaut, entdeckt grüne Pflänzchen, die wie winzige Palmen aussehen. Es sind Fichtenkeimlinge. Die verbrannten Bäume werde man stehen lassen, sagt Reim. «Auch stehendes Totholz schützt noch zu einem gewissen Grad vor Lawinen und Steinschlag. Und es gibt Schatten, hält den Boden feucht für Jungbäume.» Der Kanton werde vorerst nicht aufforsten, sondern setze auf Naturverjüngung. «Gepflanzte Bäume hätten es hier schwer – der Hang ist warm, trocken und felsig.» Ausserdem liegt er in einem Jagdbanngebiet, in das sich das Wild zurückzieht. Es verbeisst gern empfindliche Jungbäume. Hirschspuren durchziehen den Wald.

Bäume, die von selber keimten, hätten mehr Chancen, sagt die Spezialistin. Sie zeigt auf einen verkohlten Baumstrunk: Er ist hohl und voller Keimlinge. «Hier sind sie gut geschützt.» Forstleute fällten diese Fichte, weil sie dank einer Wärmebildkamera sahen, dass ihr Inneres brannte. «Da schlagen beim Fällen Flammen aus dem Stamm – das braucht Nerven.»

Seit dem Brand klären die kantonalen Ämter ab, wie gefährlich Steinschlag und Lawinen im Gebiet werden können. «Strassen und Siedlungen sind zum Glück nicht stark gefährdet», sagt Reim. Es werde keine aufwendigen Bauten wie Steinschlagnetze oder Lawinenverbauungen brauchen. Der beliebte Wanderweg über der Massaschlucht bleibt aber bis auf Weiteres gesperrt. «Das macht den Gemeinden Sorgen, denn er ist wichtig für den Tourismus.»

Was wird aus den Trockenhängen?

Seit der Jahrtausendwende gab es im Oberwallis schon zwei grosse Waldbrände: 2003 oberhalb von Leuk, 2011 bei Visp. Die nachgewachsenen Wälder sehen ganz anders aus als davor: Laubbäume dominieren. «Grosse Störungen wie Brände können bei der Anpassung an den Klimawandel helfen», sagt Reim. Die Traubeneiche, die Trockenheit und Hitze besser erträgt als die Fichte, wandert in die Höhe. Unklar ist, ob es für die tiefer gelegenen Walliser Trockenhänge überhaupt noch geeignete Baumarten gibt. Ihr Klima ist in der Schweiz einzigartig (siehe WOZ Nr. 45/15).

Trotz des immer extremeren Klimas: Gesamthaft haben Waldbrände in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten abgenommen. «Die Bevölkerung ist aufmerksam, Rauch wird schnell gemeldet», sagt Reim. In Zeiten erhöhter Waldbrandgefahr gibt es Warnungen am Radio und über die App von Meteo Schweiz. Und diese Zeiten werden vor allem in den trockenen Alpentälern länger.

Wenn auch nicht gerade jetzt. In den vergangenen Wochen drohte nicht vom Feuer Gefahr, sondern vom Wasser.