Wie wir leben werden (4): Das System stösst an seine Grenzen

Nr. 25 –

Wie lassen sich immer häufiger vorkommende Hochwasser und Überschwemmungen bewältigen? Bei der Prävention befinde man sich schon nah am Optimum, sagt Hydrologe Bernhard Wehren, der die grossen Seen an der Aare reguliert.

Hydrologe Bernhard Wehren auf dem Schönausteg in Bern
«Ab einem gewissen Punkt ist man den Ereignissen ein Stück weit ausgeliefert»:
Der Hydrologe Bernhard Wehren auf dem Schönausteg in Bern.

Bielersee im Juli 2021. Der Regen will nicht aufhören. Mit jeder Stunde steigt der Pegel noch weiter. Es herrscht Gefahrenstufe fünf, genauso wie am Thunersee und an der Aare in Bern. Als das Wasser im Bielersee endlich aufhört zu steigen, liegt der Pegel bei 430,94 Meter über Meer. Mehr als einen halben Meter über der Hochwassermarke. Und so hoch, wie er seit den zwei Juragewässerkorrektionen in den beiden letzten Jahrhunderten nie mehr war.

Eine Häufung seit 25 Jahren

Mitten im Geschehen war 2021 auch Bernhard Wehren. Der fünfzigjährige Hydrologe ist seit fünfzehn Jahren für die Regulierung der grossen Seen entlang der Aare zuständig. Mit Schleusen an den Ausflüssen von Bieler-, Thuner- und Brienzersee versucht er, die Wassermassen zu steuern.

«Der Klimawandel wird uns häufigere und intensivere Hochwasserereignisse bringen», sagt Wehren im Besprechungszimmer des Amts für Wasser und Abfall in Bern. Vereinfacht gesagt: Wärmere Luft kann mehr Feuchtigkeit aufnehmen, was zu häufigeren Starkniederschlägen führt. «Darauf müssen wir uns einstellen», so Wehren. An der Wand hängt eine alte Karte: Sie zeigt die Jurarandseen und die Aare vor der ersten Juragewässerkorrektion, die 1891 abgeschlossen wurde. Ein Mammutprojekt der Hochwasserregulierung. Immer wieder hatte die wilde Aare zuvor das Mittelland überschwemmt; mit Kanälen und einer Absenkung des Bielersees um zweieinhalb Meter sollte das Wasser gebändigt werden.

Gelungen ist das nur teilweise. Zwar wurden die Hochwasserspitzen am Bielersee mit der zweiten, 1973 abgeschlossenen Korrektion zusätzlich reduziert. Nachdem es viele Jahre ruhig war, häufen sich die Hochwasserereignisse entlang der Aare aber seit der Jahrtausendwende wieder: 1999, 2005 und 2021 trat der Thunersee über die Ufer. In Bern überschwemmte die Aare 2005 und 2015 Strassen und Quartiere. Der Bielersee führte 2005, 2007, 2015 und 2021 Hochwasser. «Die Frage ist nun, ob diese Häufung bereits auf den Klimawandel zurückzuführen ist», so Wehren. Und auch: was sich dagegen unternehmen lasse.

Leider nicht viel, glaubt Wehren. «Wir stossen an die Grenzen der Regulierungsmöglichkeiten», sagt der Hydrologe, «ab einem gewissen Punkt ist man den Ereignissen ein Stück weit ausgeliefert.» Rund um die Uhr überwacht er mit seinem Team ein Netzwerk aus Messstationen, um die Schleusen der Seen optimal einzustellen. Stets weiss er über die Wassermengen etlicher Flüsse Bescheid. Hinzu kommen Daten des Bundesamts für Umwelt: Sie prognostizieren die Abflüsse an neuralgischen Punkten des mehr als 10 000 Quadratkilometer grossen Einzugsgebiets.

In den letzten zehn Jahren sei sehr viel in die Wasserregulierung investiert worden, doch mittlerweile befinde man sich nahe am Optimum. «Ich wüsste nicht, was sich technisch noch gross verbessern liesse», sagt Wehren. Um die Seeregulierung weiter zu verbessern, gebe es im Grunde nur drei Möglichkeiten: den Abfluss zu vergrössern, Wasser im Einzugsgebiet mit Speichern zurückzuhalten oder den Pegel vorsorglich zu senken.

Hin zur Schadensbegrenzung

Nach den Jahrhunderthochwassern von 1999 und 2005 wählte man in Thun die erste Variante. Ein Stollen sorgt seit 2009 dafür, dass im Notfall mehr Wasser aus dem See in die Aare fliessen kann. «Eine zweischneidige Sache», sagt Wehren: Was sich für Seeanstösser:innen positiv auswirke, könne flussabwärts bedrohliche Folgen haben. Um die Interessen auszutarieren, wurde für den Wasserstand in Bern ein Grenzwert definiert. Ist zu erwarten, dass der Durchfluss am Schönausteg oberhalb der Stadt zu hoch wird, muss der Abfluss aus dem Thunersee reduziert werden.

Zum anderen wird der Thunersee aktiv «bewirtschaftet». Sind grössere Niederschläge prognostiziert, werden in Thun vorsorglich die Schleusen geöffnet. «Dadurch können wir den Pegel in 24 Stunden um bis zu zwanzig Zentimeter senken, um Platz für zusätzliches Wasser zu schaffen», erklärt Wehren. Auch an den Jurarandseen lässt sich das machen. Wegen deren Grösse braucht es aber fast eine Woche Vorlaufzeit, um einen spürbaren Effekt zu erreichen. «Auf diese Zeitspanne hinaus sind die Prognosen oft noch nicht präzis genug», so Wehren.

Wenn die Prävention an ihre Grenzen stösst, braucht es andere Lösungen. Wehren zeigt zwei Kartenausschnitte des Bielersees, um das Problem zu veranschaulichen. Nach 1891 wurde an dessen Ufer viel Fläche frei: «Diese war als Rückhalteraum für Hochwasser gedacht», so Wehren. Als aber die Hochwasser seltener geworden seien, habe man Häuser an die Ufer gebaut – mitten in der Gefahrenzone. Erste Anwohner:innen beginnen nun damit, ihre Häuser um einen halben Meter anzuheben; Neubauten werden teils ohne Keller und auf Pfählen errichtet, um das Schadenspotenzial zu reduzieren. «Wenn die Grenzen der Regulierung erreicht sind, werden die Vorbereitung auf Hochwasser und allenfalls Evakuierungen umso wichtiger», sagt Wehren.