Durch den Monat mit Ursi Anna Aeschbacher (Teil 2): Ist Altersarmut ein Thema für Sie?

Nr. 50 –

Die Verlegerin Ursi Anna Aeschbacher ist überzeugt, dass es Literatur mit Ecken und Kanten braucht, um die Fiktionen von Politiker:innen oder Marketingleuten zu erkennen. Sie gibt Ende Jahr ihren Verlag ab – aber hört nicht ganz auf.

Portraitfoto von Ursi Anna Aeschbacher
«Früher oder später werde ich Ergänzungsleistungen beantragen müssen. Aber es ist krass, was man alles machen muss, damit man diese bekommt»: Ursi Anna Aeschbacher.

WOZ: Ursi Anna Aeschbacher, Ende Jahr geben Sie Ihren Verlag «die brotsuppe», den Sie vor 25 Jahren gegründet haben, ab. Warum hören Sie auf?

Ursi Anna Aeschbacher: Ich werde jetzt 73 – die Verantwortung ist mir zu gross. In diesem Job stehst du finanziell dauernd auf der Kippe. Klar, bis jetzt konnte ich alle Rechnungen bezahlen. Aber wenn es knapp wurde mit dem Geld, brauchte ich mehr Aufträge, und dann hatte ich noch mehr zu tun. Das führte dazu, dass ich manchmal halbe Nächte durcharbeiten musste. Seit letztem Jahr geht das nicht mehr so gut. Wenn ich weniger schlafe, brauche ich am nächsten Tag mehr Pausen. Deshalb habe ich beschlossen, dass ich auf Ende Jahr – zumindest teilweise – aufhöre.

Was bedeutet das für den Verlag?

Ich habe bereits letztes Jahr mit Verleger:innen gesprochen, es gab Interessent:innen, was mich sehr gefreut hat. Aber ich befürchtete, dass sie nur die erfolgreichen Autor:innen übernehmen würden und die anderen rausfallen würden. Und ich finde: Alle sind erfolgreich. Ausserdem ist so ein kleiner Verlag, der über eine Einzelperson funktioniert, wie eine Familie, in der man zueinander schaut. Deswegen war es mir wichtig, dass jemand den Verlag mit allen Autor:innen übernimmt. Ich bin fest der Meinung, dass diese Art zu schreiben, wie es in den «brotsuppe»-Büchern gemacht wird, einen Platz in dieser Welt haben muss.

Und haben Sie eine Lösung gefunden?

Ja, ich freue mich sehr, dass Sonja Muhlert und Adrian Künzi den Verlag auf Anfang nächstes Jahr übernehmen. Ich kenne die beiden schon lange. Sie sind aus Biel, Gymnasiallehrer:innen, mit Sonja und ihren Schüler:innen habe ich zwei Bücher gemacht.

Wie geht es mit Ihnen weiter?

Ich mache weiterhin bei der «brotsuppe» die Grafik und kann auch im Lektorat helfen, und ich widme mich wieder eigenen Projekten und arbeite für andere Verlage. Ich muss ja auch aus finanziellen Gründen weiterarbeiten.

Ist Altersarmut ein Thema für Sie?

Ja, jetzt ist es als Thema bei mir angekommen. Da ich so lange in Deutschland gelebt und gearbeitet habe, beziehe ich nur 850 Franken AHV. Früher oder später werde ich Ergänzungsleistungen beantragen müssen. Aber es ist krass, was man alles machen muss, damit man diese bekommt – und wie man behandelt wird, wenn man sie beantragt.

Wie denn?

Mit grossem Misstrauen. Es wird einem das Gefühl gegeben, dass etwas nicht stimme und dass man selber schuld sei und es nicht besser verdient habe. Da denke ich manchmal schon: Was ist das für eine Gesellschaft? Es kann doch nicht sein, dass jemand, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, einfach alleingelassen wird. Und das in einem reichen Land. Und jetzt kommen wir dazu, was für eine Bedeutung Literatur hat: Politiker:innen, deren Job es ja nicht wäre, sich Fiktionen auszudenken, erzählen immer mehr Geschichten. Und weil sie das tun, statt Politik zu machen, die auf Fakten basiert, herrscht immer grössere Beliebigkeit, was Wörter betrifft.

Wie meinen Sie das genau?

Politiker:innen brauchen zum Beispiel die grössten und schönsten Wörter im Zusammenhang mit Behinderung oder dem Alter, wie «Teilhabe», «Selbstständigkeit», «Autonomie» – das klingt alles super. Bei der AHV-Abstimmung hörten wir: «Wir haben die Ergänzungsleistungen», «Es wird für alle gesorgt». Doch so einfach ist es nicht. Politiker:innen werden immer mehr zu Geschichtenerzähler:innen, die die Wörter für alles Mögliche missbrauchen. Und hier kommt die Literatur ins Spiel: Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Politik, die muss unbedingt wieder klarer werden. Aber das kann sie nur, wenn die Literatur gut bleibt. Denn wenn wir unter Literatur nur noch jene Geschichten verstehen, die in Werbespots und von Politiker:innen erzählt werden, hat das Folgen.

Welche?

Wir sind nicht mehr empfänglich für Literatur, die Ecken und Kanten hat. Sie ist uns zu kompliziert, wie man gerne sagt. Dabei ist sie nur reicher. Und am Ende wimmelt es nur noch von kantenlosen und langweiligen Geschichten. Deswegen ist es die Aufgabe von Verlagen, sperrige, eigensinnige Literatur herauszugeben. Man muss unbedingt Wege finden, um die Leser:innen dazu zu bringen, diese Art Lesen einzuüben, sie nicht zu vergessen.

Und wie finden Verlage ihre Leser:innen für diese Literatur?

Da habe ich wenig Ahnung … Vor kurzem habe ich in der Zeitung von einem Experiment gelesen: Zwei Romane wurden geschrieben, einer von einer Autorin, einer von künstlicher Intelligenz. Der von der KI ist bei den Leser:innen besser angekommen. Das ist ein Problem: Wenn man durch einen Algorithmus abfragen kann, was die Leute spannend finden, dann besteht die Gefahr, dass immer wieder dieselben Geschichten erzählt werden. Eigentlich ist es ein blöder Zeitpunkt, um aufzuhören, denn es passieren gerade wahnsinnig wegweisende Dinge.

Ursi Anna Aeschbacher (72) lebt und arbeitet in Biel. Bis Ende Jahr hat sie noch viel zu tun: die Buchvernissage von Johanna Liers «Zedern. Und Meer» und die Teilnahme an der kleinen Bieler Buchmesse «edICIon». www.diebrotsuppe.ch