Israels geopolitische Stellung : Konfrontation um jeden Preis

Nr. 40 –

Nach dem Hamas-Massaker vor zwei Jahren hat Israel seine Aussenpolitik neu ausgerichtet. Inzwischen nimmt allerdings sogar die Unterstützung von Netanjahus westlichen Verbündeten ab. Wie kam es dazu?

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Zwei Jahre ist das Massaker militanter Palästinenser in Südisrael vom 7. Oktober 2023 nun her. Seitdem finden in der ganzen Region Kriegshandlungen statt – vor allem im Gazastreifen, aber auch in Israel und im Westjordanland, im Libanon und in Syrien, im Jemen und im Iran. Sogar in der Golfmonarchie Katar gab es kürzlich einen israelischen Angriff.

Konflikte zwischen Israel und seinen Nachbarn sind zwar nichts Neues, doch der Krieg im Gazastreifen hat eine Art neue Ära eingeläutet. Statt einer weiteren Runde im Hin und Her des Israel-Palästina-Konflikts stellt er vielmehr eine strategische Neuausrichtung der israelischen Aussenpolitik dar: hin zu einer Politik der Stärke und Konfrontation – um beinahe jeden Preis.

Politik des Aussitzens

Am 6. Oktober 2023 sah Westasien so aus: Im Gazastreifen herrschte die Hamas, in Teilen des Westjordanlands die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Versöhnliche Gespräche zwischen den beiden wurden immer wieder angestrebt – und blieben ohne Erfolg. In Israel regierte eine Rechtskoalition mit teils überzeugten Siedlern als Ministern unter Premier Benjamin Netanjahu, das beherrschende Thema war der geplante Umbau des Justizsystems und eine befürchtete Konzentration der Macht unter Netanjahu und seinen Koalitionspartnern.

Die Fäden in der Region zog indes die Islamische Republik Iran über ihr Stellvertreternetzwerk von Hamas, Hisbollah und Huthi. Der Libanon befand sich in einem politischen Stillstand. Die wohl mächtigste Kraft im Land war die Hisbollah, die etwa die Wahl eines neuen Präsidenten blockierte. Im Jemen kontrollierten die Huthi den Grossteil des seit Jahren in einer humanitären Katastrophe vor sich hin siechenden Landes. Und in den palästinensischen Gebieten profilierte sich die Hamas gegenüber der schwach wirkenden PA.

Dann kam der 7. Oktober und damit der Krieg in Gaza.

In diesen stieg etwa die Hisbollah bereits am 8. Oktober ein, aus proklamierter Unterstützung für die Palästinenser:innen. Es folgte fast ein Jahr des gegenseitigen Beschusses, bevor im September 2024 schliesslich eine Grossoffensive des israelischen Militärs begann. Bis zur Waffenruhe Ende November dezimierte es die Kapazitäten der Hisbollah stark – zum Preis von Hunderten toten Zivilist:innen.

Der letzte Krieg gegen die Hisbollah im Jahr 2006 hatte mit einer Resolution des Uno-Sicherheitsrats geendet – an die sich letztlich keine der beiden Konfliktparteien hielt. Die Lage, vor allem in Grenznähe, blieb eingefroren in einem kalten Krieg; die Hisbollah baute in Grenznähe Stellungen auf, nach israelischen Angaben bis auf Sichtdistanz. In der israelischen Politik herrschte dennoch die Ansicht vor, die Miliz sei «abgeschreckt» davon, einen Krieg mit Israel anzuzetteln. Das galt noch viel mehr für die Hamas in Gaza: Mit Israels Einverständnis erhielt sie grosse Summen aus dem Golfstaat Katar, viele Palästinenser:innen arbeiteten in Israel. Warum sollte die Organisation das gefährden?, fragten israelische Politiker:innen. Ihnen – allen voran Netanjahu selbst – nützte die Zerstrittenheit der Palästinenser:innen, weil sie die Realisierung eines palästinensischen Staates zusätzlich verunmöglichte.

Israels Bereitschaft, solche Status-quo-Szenarien zu erhalten, ist seit dem 7. Oktober stark gesunken. Statt an seiner Politik des Aussitzens festzuhalten, setzt es auf eine Politik der projizierten Stärke – auch gegen die Proteste seiner eigentlichen Verbündeten wie der europäischen Staaten und der arabischen Länder der Abraham-Abkommen. Lange schien die Taktik aufzugehen: Selbst im Laufe des Gazakriegs und angesichts seiner wachsenden Brutalität und Unvereinbarkeit mit internationalem Recht blieb von westlicher Seite eine relative Unterstützung bestehen. Immer wieder gab es Kritik, etwa vor der Offensive auf die südliche Grenzstadt Rafah im Mai 2024, wohin bis dahin Hunderttausende aus allen Teilen des Gazastreifens geflohen waren. Sie blieb allerdings weitgehend ohne Konsequenzen.

Inzwischen ist Netanjahu die internationale Unterstützung immer mehr abhandengekommen: Allein in diesem Jahr haben mindestens elf Länder, darunter mehrere gewichtige aus der G7, einen palästinensischen Staat anerkannt. Wann also hat Israel aus Sicht seiner Partner den Bogen überspannt?

In den vergangenen Monaten kam einiges zusammen. Da wäre die teils komplette Blockade des Güterverkehrs in den Gazastreifen zwischen März und August, die für weitverbreiteten Hunger sorgte. Oder die schiere Dauer des Gazakriegs mit dem immer weiter schrumpfenden Raum, in dem sich die palästinensische Bevölkerung überhaupt noch aufhalten darf. Die Offensive auf Gaza-Stadt, vor der viele westliche Verbündete gewarnt hatten. Und die Aussagen israelischer Politiker, einschliesslich des Premiers selbst, über eine Wiederbesetzung Gazas, die «Umsiedlung» der Palästinenser:innen und eine Annexion des Westjordanlands.

Dazu kommen Israels anhaltende Angriffe in Syrien. Der Sturz von Diktator Baschar al-Assad letzten Dezember hatte auch im Westen positive Reaktionen hervorgerufen. Nach Meinung vieler Analyst:innen sind die Kapazitäten des Iran und seiner «proxies», die Assad stets unterstützt hatten, durch die Kriege nach dem 7. Oktober geschwächt worden. Das wiederum trug dazu bei, dass eine schnelle Übernahme des ganzen Landes durch die HTS-Miliz möglich wurde. Ex-HTS-Anführer und Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa schaffte es, weite Teile des Westens von seinem vergleichsweise liberalen Kurs zu überzeugen. Israels Einmischung in Syrien, die immer tiefer in das Land eindringenden Truppen sorgen dort indes für Verärgerung.

Hoher diplomatischer Preis

Vielleicht war aber der Angriff auf Hamas-Kader in Doha Mitte September ausschlaggebend. Bislang hatten alle noch so waghalsigen Attacken – etwa im Iran – aus israelischer Perspektive einen gewissen Erfolg gebracht oder sich zumindest so verkaufen lassen. Doch der Angriff in Doha scheiterte, wichtige Hamas-Leute überlebten. Stattdessen starb unter anderem ein Angehöriger der katarischen Sicherheitskräfte.

«Nicht glücklich» sei er darüber, liess Donald Trump anschliessend verlauten. Der US-Präsident ist Netanjahus wohl engster Verbündeter, aber auch mit den Golfstaaten, allen voran Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, verbandelt.

Der diplomatische Preis für den Angriff war indes hoch: Alle wichtigen westlichen Partner Israels reihten sich in den Chor der Verurteilungen ein. Und als sich Netanjahu und Trump am Montag in den USA trafen, musste Netanjahu israelischen Medien zufolge unter der Aufsicht des US-Präsidenten in Doha anrufen, um sich bei Premier Muhammad Bin Abdulrahman al-Thani zu entschuldigen. Seitens der Vereinigten Arabischen Emirate – Israels engstem Partner in der Region – kam zudem jüngst Kritik an einer geplanten Annexion des Westjordanlands. Laut Medienberichten hat Trump über Netanjahus Kopf hinweg arabischen und muslimischen Ländern versichert, dass das nicht passieren werde. Auch in den USA scheint sich der Wind also langsam zu drehen.

Selbst wenn man Israels Stellung in der Region als Massstab anlegt, ist die Bilanz von Netanjahus Politik der letzten beiden Jahre äusserst durchwachsen: Mit seiner Politik der Stärke hat der israelische Ministerpräsident zwar die iranische Achse und die Islamische Republik selbst geschwächt – aber auch die Sympathien westlicher Verbündeter verspielt. Mit dem Zwanzig-Punkte-Plan zum Ende des Krieges in Gaza setzt Trump seinen israelischen Verbündeten zusätzlich unter Druck (vgl. Kotext bei «Kollidierende Realitäten»). Offiziell hat Netanjahu den Deal angenommen – auch wenn seine rechtsextremen Koalitionspartner ihn ablehnen. Etwas anderes kann er sich in seiner selbst gewählten Isolation eigentlich auch kaum leisten.