Wir wollen alles und zwar subito. Teil IX: Werte vertreten, die nicht im Trend liegen

Patrizia Loggia. Geb. 1959 in Zürich. Matura. Arbeitet zur Zeit des Interviews auf einem Gewerkschaftssekretariat.

Patrizia Loggia im Jahr 2000.

Meine Eltern emigrierten um 1957. Mein Vater ist halb Römer, halb Sizilianer. Meine Mutter stammt aus dem Veneto. Beide kommen aus der unteren Mittelschicht, machten aber in der Schweiz die untersten Jobs: Mein Vater arbeitete jahrelang in einer Autowäscherei, bis sein Rücken kaputt war. Meine Mutter machte Schichtarbeit in einer Grossbäckerei. Mein Bruder ist Bauprojektleiter im elektrotechnischen Bereich geworden und meine Schwester Chefsekretärin.

Ich wuchs in einer Dreizimmer-Wohnung im Kreis 4 in Zürich auf. Wir Kinder teilten zunächst zu dritt ein Zimmer. Später gab es für meine Schwester und mich zwei aufklappbare Betten im Wohnzimmer. Als Älteste musste ich viel Verantwortung übernehmen. Jedes von uns Kindern hatte ein Ämtli: Bügeln, Bettenmachen, Staubsaugen, Abstauben usw. Bananen waren noch etwas Besonderes. Lange hatten wir kein Auto. Einen Fernseher bekamen wir, als ich neun war. Ich liebte Stummfilme.

Wie war der Kontakt zu den Verwandten in Italien?
Wir besuchten sie nicht oft. Die Familienverhältnisse waren eher schwierig. Wir hatten kein Heimatdorf oder ein eigenes Haus. Dafür bereisten wir in den Ferien ganz Italien. In Zürich waren wir nur locker in die italienische Gemeinschaft integriert. Jeden Sonntag traf man sich in der Missione Cattolica. Bevor das Fernsehen aufkam, wurden jeden Sonntagnachmittag Filme gezeigt oder Theater aufgeführt. Alle sassen im grossen Saal, vorne wir Kinder, die Bonbons lutschten, und hinten die Eltern. Wenn der Held siegte oder sich das Liebespaar küsste, trampelten und johlten wir. Später machte ich im katholischen Jugendfoyer mit. Ein engagierter Pfarrer kümmerte sich um uns Junge.

Wie erlebtest du die Schule?
Ich musste mich nicht gross anstrengen und hatte es auch leicht mit den beiden Sprachen. Erst in der Mittelschule bekam ich Mühe mit Lernen, ausser in meinem Lieblingsfach, Geschichte. Als Ausländerin und Arbeiterkind wurde ich damals noch als Exotin betrachtet. Ich war eine kritische Schülerin und sass nicht auf dem Maul.
Eine Freundin, die malte, brachte mir die moderne Kunst näher. Im Zürcher Kunsthaus schauten wir uns die Werke von Picasso, Braque und den Dadaisten an. Vor allem die Ausstellung «Monte Verità» 1) berührte mich sehr. Da ging es um eine leidenschaftliche Suche nach neuen Verbindungen zwischen Kunst und Leben.

Über eine Mitschülerin kam ich mit der Zürcher Anarchoszene in Berührung, mit den Autonomen und anderen Freaks. Wir trafen uns in den wenigen Discos, die es damals gab, im «Zabie» und im «Polyfoyer». Schon bald machte ich bei einem literarischen Underground-Heft mit. Im «Babayaga» durfte schreiben und mitgestalten, wer wollte.

Wie war das Lebensgefühl in dieser Szene?
Es kam mir vor, wie wenn wir alle in einem Riesenpudding steckten, in einer schwabbligen, konturlosen Masse, aus der wir nicht herauskamen. Wir waren ungeduldig, wollten leben und kreativ sein. Irgendwie entstand immer mehr das Bedürfnis, uns auszubreiten. Dann gingen einige unserer wenigen Treffs zu. Wir begannen, uns für unsere Freiräume zu wehren. Punky organisierte ein Rockfestival auf dem Hönggerberg, und da wurde unsere Gruppe «Rock als Revolte» (RAR) geboren 2).

Wie ging es nach der Matura weiter?
Ich schrieb mich an der Uni bei den Ethnologen ein und besuchte die Vorlesungen von Mario Erdheim. Sein ethnopsychoanalytischer Ansatz faszinierte mich: Sich selbst und die eigene Kultur durch die Beschäftigung mit anderen Kulturen neu beleuchten und verstehen lernen. Dann stiess ich auf deine Lehrveranstaltung «Community Medien» 3) und war erfreut, wie ihr das für mich damals noch neue Medium Video eingesetzt habt: als Mittel der Dokumentation und der Forschung in der Urbanethnologie und in sozialen Bewegungen. UnistudentInnen arbeiteten da partnerschaftlich mit ausseruniversitären Aktionsgruppen zusammen. Das hat mir sehr entsprochen. Aus dieser Lehrveranstaltung entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit der RAR; ich war quasi die «go-between». Die RAR nahm das Videoangebot von der Uni überraschend gut auf.

Was hast du dir von der Videoarbeit in Rock als Revolte versprochen?
Neben der Dokumentation von Aktivitäten und Aktionen sah ich im Medium Video vor allem ein Mittel zur kritischen Selbstreflexion innerhalb der RAR: Welche Themen und Argumente werden in die Diskussionen eingebracht, wer spricht wie oft, wie ist das Verhältnis zwischen Frauen und Männern.

Dieser Prozess des Dokumentierens mit und über RAR begann im Herbst 1979 und kam im Frühjahr 1980 mit dem Ausbruch der Unruhen vor dem Zürcher Opernhaus zu einem abrupten Ende. Der damalige Erziehungsdirektor Alfred Gilgen, der für die Universität zuständig war, belegte uns mit einem Filmverbot. Ein halbes Jahr später entzog er dir ja sogar den Lehrauftrag.

Am 30. Mai 1980 waren wir mit unserer Videoausrüstung vor dem Opernhaus, um die Kundgebung gegen die ungerechte Verteilung der Kulturgelder in der Stadt Zürich zu dokumentieren. Du warst hinter der Kamera. Wie hast du diesen Tag in Erinnerung?
Ich war aufgeregt. Da waren viel mehr Leute vor dem Opernhaus, als ich mir gedacht hatte. Als dann die Schmier aus dem Opernhaus herauskam und die Demonstranten die Treppe hinunterdrängte, nahm ich das alles durch den Sucher der Kamera wahr. Ein merkwürdiges Gefühl, mittendrin zu stehen und gleichzeitig Fernseh zu schauen! Was nach dem Filmen geschah, weiss ich nicht mehr genau. Ich weiss nur, dass ich am andern Tag zur Arbeit gehen musste und beim Schnitt des Krawallfilms nicht dabei sein konnte. Und nachher ging es in Zürich so richtig ab, sodass mich Video und unser Uniprojekt nicht mehr sonderlich interessierten.

In der Ethnologie gibt es einen treffenden Ausdruck für deine damalige Situation: To go native. Du hast dich voll mit der Bewegung identifiziert und die wissenschaftliche Distanz aufgegeben. Wie war das für dich?
Ich habe Position bezogen. Es ging für mich nicht mehr um Fragen der Wissenschaftlichkeit unserer Arbeitsmethoden. Gegenüber der Wissenschaft war ich sowieso sehr kritisch eingestellt. In diesem Moment war für mich einfach klar, woher ich kam und wohin ich gehörte – nämlich zur entstehenden Bewegung.

Wie hat die RAR auf die Eskalation der Ereignisse reagiert?
Wir hatten keine Ahnung, wohin dieser gewaltige Aufbruch führen würde. Wir wurden zum Zentrum von etwas, das wir so gar nie erwartet hatten. Irgendwie fühlten wir uns für das Ganze verantwortlich und organisierten die VVs – die Vollversammlungen. Aber nur so lange, bis die Leute selbst begannen, zu bestimmen und zu entscheiden. Im AJZ wurde offensichtlich, wie unterschiedlich die verschiedenen Gruppierungen der Bewegung waren: militante Anarchos und Autonome, Aktivisten mit ihren Clans, Bands aus der lokalen Musikszene, Spontis, Studis, Lehrlinge usw. Uns alle verband eine lustvolle Wut auf alle Herrschenden. Du hast laufend neue Leute kennen gelernt und ganze Nächte durchgetanzt. Du bist durch die Strassen von Zürich gegangen, hast den Leuten ins Gesicht geschaut, und bei einigen hat es ganz einfach Klick gemacht. Eine Stimmung von solcher Intensität kannte ich vorher nicht in dieser Stadt.

Wie hast du gelebt?
Ich wohnte allein in einer Art Scheune im Seefeld. Es war ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten. Oder ich war auf der Gasse oder zu Besuch. Ab und zu ging ich noch an die Uni, wo wir uns mit den Zensurmassnahmen und mit dem ganzen wissenschaftlichen Apparat auseinander setzen mussten. Nach dem Filmverbot stieg ich im Videoladen ein 4). Alle waren Männer und älter als ich. Das war für mich gar nicht einfach. Diese intensive Zeit der Filmens, der gemeinsamen Besuche im AJZ, der Auseinandersetzung mit Medien und Polizei schweisste uns trotz Differenzen zusammen. Wir mussten laufend die Videobänder vor dem Zugriff der Polizei verstecken. Ich kümmerte mich um die Ladenführung, übernahm halt die Frauenjobs. Zum Filmen kam ich immer weniger, weil meine eigenen künstlerischen Ansprüche und die, die durch die Arbeit an «Züri brännt» geweckt wurden, mich schlicht überforderten. Umso mehr nahm ich an den strategischen Diskussionen teil: Welches ist unsere medienpolitische Haltung? Welche Funktion hat der Laden? Wie verteilen wir die Einnahmen unter uns? Ich glaube, für die Männer im Videoladen war ich ein Stück weit sicherlich auch Vorzeigefrau und so eine junge rotzige Exotin, die versuchte mitzumischeln, aber sich nicht richtig durchsetzen konnte. Nach zwei Jahren stieg ich aus. Ich schaffte es auch später nicht, für mich einen eigenen Ausdruck im Medium Video oder Film zu finden.

Wie ging es für dich nach dem Ende der Bewegung weiter?
Ich arbeitete im studentischen Büchervertrieb und engagierte mich im freien Theater. Später war ich in der Musikgenossenschaft RecRec tätig und machte beim Filmclub «Tsunami» in der Roten Fabrik mit. 1984 begann für mich wieder eine sehr lebendige Zeit mit den Kämpfen um das Quartier- und Kulturzentrum Kanzlei. Ich machte im Kanzlei-Kafi mit und bei der Eroberung der Kanzleiturnhalle. In einer minuziös geplanten Aktion verpackten wir die Turnhalle mit riesigen Stoffbahnen. Sie wurde zu einer Art Kokon, aus dem, begleitet von Ritualen, die Kanzlacken schlüpften: unsere Vision von einer Aktionshalle für alle – mitten in der Stadt 5). Später kam das Bolo-Bolo-Wohnprojekt Karthago am Stauffacher, die Arbeit in der Aids-Hilfe und in einer Tagesklinik. Heute arbeite ich in einem Gewerkschaftssekretariat und bin Mutter eines zweijährigen Mädchens.

Was hattest du von der achtziger Bewegung erwartet?
Ein Leben im Kollektiv, in einer Sippe, in Netzwerken. Einige versuchen dies heute noch. Visionäre und gesellschaftlich kreative Menschen finden an solchen Orten Zuflucht. Das zieht sich immer wieder durch alle möglichen sozialen Bewegungen. Die alternativen Strukturen, an denen seit den siebziger Jahren gebaut wird, haben sich verfeinert und ausgedehnt. Durch den technologischen Fortschritt, den Wohlstand und auch die Liberalisierung hat sich bei uns der Zugang zu den Produktionsmitteln enorm vereinfacht. Davon konnten wir vor zwanzig Jahren nur träumen. Heute kann jedeR zu Hause eine eigene CD brennen, eine Software-Firma aufziehen und Partys veranstalten. Aber es erschreckt mich, wie wenig wir mit unseren Möglichkeiten zur Emanzipation und zu einer weltweiten Verbesserung der Lebensqualität beitragen.

Ich habe weder beruflich noch sozial eine Heimat gefunden. Einerseits brauche ich das Alleinsein, andererseits sehne ich mich immer wieder nach Gemeinschaft und Aufbruch. Heute, wo das Reaktionäre als modern verkauft wird, braucht es Mut, Werte zu vertreten, die nicht im Trend liegen.

Die Kanzlacken erobern das Kanzlei. Im Kanzlei-Kafi entstand für mich eine Grossfamilie auf Zeit.

1) In der von Harald Szeemann konzipierten Ausstellung wurde das Leben in der Künstlerkolonie in Ascona Anfang des 20. Jahrhunderts rekonstruiert.
2) vgl. dazu das Interview mit Markus Punky Kenner .
3 Der Interviewer war damals Lehrbeauftragter für Urbanethnologie am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich und Leiter der Projektgruppe «Community Medien». Videos der Projektgruppe siehe Katalog des Videoarchivs «Stadt in Bewegung»: www.sozialarchiv.ch ">www.sozialarchiv.ch
4) Der 1977 gegründete Videoladen Zürich produzierte 1980 den Videofilm «Züri brännt», eines der wichtigsten Dokumente über die 80er-Bewegung. Siehe Katalog des Videoarchivs «Stadt in Bewegung»: www.sozialarchiv.ch ">www.sozialarchiv.ch
5) Das Video über diese Aktion – «Kokon» – kann ebenfalls im Videoarchiv «Stadt in Bewegung» eingesehen werden.