Wir wollen alles und zwar subito. Teil IV: Wie in Italien, so heiss war die Stimmung
Antonella Martegani. Geboren 1955 in Zürich. Sekretärin und Sozialpädagogin. Arbeitet zur Zeit des Interviews als Gemeinwesenarbeiterin im Kreis 5 in Zürich.
Antonella Martegani: Meine Eltern stammen aus benachbarten Dörfern in Italien und emigrierten nach dem Krieg nach Zürich. Als ich geboren wurde, lebten sie in einem Zimmer in Oerlikon. Toilette und Küche teilten sie mit anderen Mietern. Für Arbeiter war es damals nicht leicht, eine Wohnung zu bekommen. Meine Mutter war Kunststopferin, mein Vater Dreher. Als ich ein Jahr alt war, brachten sie mich nach Italien zu meiner Tante. Sie besass eine wunderschöne Gärtnerei – ein Familienbetrieb. Für mich war es paradiesisch, es hatte einen Esel, einen Hund, eine Katze und Hühner. Ich konnte frei herumstreichen.
Als ich vier war, holten mich meine Eltern wieder nach Zürich. Weil sie ganztags arbeiteten, kam ich in eine Pflegefamilie. Die Erziehung in dieser fremden Familie bestand vor allem im Anschreien der Kinder, und alles war durchstrukturiert nach Schema F. Abends und an den Wochenenden lebte ich bei meinen Eltern. Dieser ständige Wechsel war für mich die Schattenseite der Emigration. Ich wuchs in Zürich auf und fühlte mich doch nicht zu Hause.
Welchen Kontakt hattest du zu den Kindern in deiner Umgebung?
Ich lernte schnell Zürichdeutsch und durfte schon als Vierjährige in den Kindergarten. Über viele Jahre hatte ich einen engen Kontakt zu einem Mädchen aus meiner Klasse. Die Stimmung in dieser Familie erinnerte mich an Italien. Das Radio lief, man sang dazu, die Mutter bügelte oder nähte, man war zusammen zu Hause und hat gearbeitet.
Welches Menschenbild vermittelten dir deine Eltern?
Mein Vater ging jeden Samstag Nachmittag ins Restaurant «Heimat» in Oerlikon, um Karten zu spielen. Manchmal nahm er mich mit. Er traf sich dort mit Kollegen einer katholischen Emigrantenvereinigung. Wenn meine Eltern am Sonntag Freunde zum Essen einluden, erzählte er immer wieder von Russland, wohin er im Krieg als 19-Jähriger mit zwei Freunden aus seinem Dorf geschickt wurde. Wichtig war ihm der Mut, den man haben musste, um überleben zu können. Zu dritt waren sie immer zuvorderst an der Front und überlebten. Alle, die hinten blieben, starben.
Die Arbeitsteilung war klassisch, die Männer plauderten im Wohnzimmer, die Frauen räumten die Küche auf. Meine Mutter machte einen mutigen Schritt. Als die Besitzerin der Kunststopferei alt war, nahm sie einen Kredit auf und kaufte das Geschäft, das sich mitten in der Zürcher City befand – ein für sie rasanter Aufstieg. Während der Sekundarschule ging ich jeweils am Mittwochnachmittag zu ihr in den Laden, um auszuhelfen.
Wie warst du als Jugendliche?
Zusammen mit einer Freundin führte ich in meiner Klasse den Minirock und die angemalten Fingernägel ein, zudem motzte ich dauernd. Manchmal gingen wir ins neu eröffnete Migros-Restaurant. Das war ein typischer Bau aus dieser Zeit, mit orangen Kugellampen, olivgrünen Teppichwänden und -sitzen und dunkelbraunen Tischen. Zu zweit teilten wir uns eine Portion Pommes frites. Dafür reichte das Sackgeld gerade. Als Kind habe ich italienische Schlager wie Muttermilch aufgesogen. Das Radio lief den ganzen Tag. Eine Cousine war Elvis-Presley-Fan und hatte eine grosse Plattensammlung. Wann immer ich bei ihr in Italien weilte, hörte ich Elvis. Dann kamen Cliff Richard, die Shocking Blues mit «Venus», später Jimi Hendrix, Janis Joplin, die Stones und die Beatles. Ich hatte einen kleinen Transistorradio, mit dem ich nachts unter dem Kissen Radio Luxemburg hörte. Das war damals der Sender mit anderer Musik. Ich mag mich noch gut an das Jahr 1968 erinnern, wie wir Tagesschau schauten und mein Vater entsetzt war, dass die Schweizer Polizei mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorging. Das erinnerte ihn an den Krieg. Er konnte auch die demonstrierenden Jugendlichen nicht verstehen, die hatten doch alles.
Wie ging es für dich nach der Schule weiter?
Ich besuchte die Handelsschule, arbeitete zwei Jahre als Sekretärin in Genf und wurde dann an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich aufgenommen. Ich genoss diese drei Jahre sehr. Mir Zeit nehmen zu können, um mit anderen Leuten über ein Thema zu reflektieren, war für mich Luxus. Das hatte ich weder zu Hause noch in der Schule. Während des letzten Jahres arbeitete ich bei Condiem, einer Frauenberatungsstelle für Emigrantinnen. So begann meine Politisierung. Zum erstenmal sah ich die Emigration in einem grösseren Zusammenhang.
Wie erlebtest du den heissen Sommer 1980?
Ich weiss nicht mehr genau, wie ich zur achtziger Bewegung stiess. Irgendwann ging ich an die Demos und kam mitten ins Geschehen. Im AJZ machte ich bei der Spuntengruppe mit. Das waren unkomplizierte Leute. Das Nötigste für meinen Lebensunterhalt verdiente ich mit Hortvikariaten. Für mich war das AJZ wie ein Familienersatz. Ich kannte die Leute, und die Leute kannten mich. Es war egal, wer du warst, das gefiel mir total. Einmal organisierten wir eine Italowoche mit einem wunderschönen Schlussabend. Wir mussten 240 Portionen Lasagne kochen. Die Aktionshalle war rot-weiss-grün geschmückt. Nach dem Essen wurde der Film «Django» gezeigt. Als die Kamera auf seine stahlblauen Augen zoomte, kreischte die Halle. Es kam mir vor wie in Italien, so heiss war die Stimmung.
Was hatte das AJZ mit Italien zu tun?
Es gab Zweit-Generation-Italiener in der Bewegung. Ich war ja nicht die Einzige. Dann waren da Tessiner, die Verbindungen zu den italienischen Autonomen und zu den roten Universitäten in Padova und Bologna hatten. Diese Italowoche war ein Gesamtkunstwerk: Essen, Politik, Kultur und Kitsch – alles, was du wolltest! Im AJZ habe ich das Organisieren von solch grossen Anlässen gelernt. Ich stand mitten im Leben, mit allem, was dazu gehört: Liebe und Herzensbrüche, Auseinandersetzungen über Beziehungen, Emanzipation, Unterdrückung, über Politik, Geburtenkontrolle und Ernährung. Es war fantastisch, hier in Zürich diesen grossen Aktionsraum zu haben, etwas machen zu können, das nicht in starren Strukturen ablief, nicht hierarchisch organisiert war und wo schnell auf Veränderungen reagiert werden konnte.
Wurdest du im AJZ mit Problemen konfrontiert?
Als der zweite Umbau kam, begann es zu kriseln. Es gab Konflikte um die Verteilung des Geldes. Man begann sich innerhalb der Umbaugruppe zu bekämpfen. Auch der Drogenraum war für jene Zeit eine Schuhnummer zu gross. Du konntest nicht mehr kontrollieren, was dort drin abging. In der Nacht erlebten wir bedrohliche Situationen. Wenn jemand aufgelöst an die Bar kam und sagte, da draussen sei ein Dealer mit einem Messer, dann sprangen wir alle auf und stellten ihn hinaus.
Als das AJZ zum ersten Mal geschlossen wurde, gingen die Demos und Aktionen wieder los. Auf der Limmatstrasse bauten wir eine Barrikade mit flimmernden Fernsehern. Den Strom bezogen wir aus dem AJZ. Das war eine Provokation. Die Polizei stand ratlos herum. Das Fernsehen war für uns der Inbegriff von Langeweile und allem Kleinkarierten.
Wie seid ihr auf diese Ideen gekommen?
Die Ideen lagen in der Luft. Wir haben daraus etwas gemacht, ohne dass einer davor stand und sagte, das war meine Idee. An den Demos hatte ich Angst vor Gewalt. Anlässlich eines Kinks-Konzerts im Kongresshaus, das wegen der hohen Eintrittspreise gestürmt wurde, kesselte uns die Polizei ein. Wir wurden verhaftet und in Kastenwagen in die Kaserne abtransportiert. Männer und Frauen wurden voneinander getrennt. Wir wurden der Reihe nach verhört, ich immer als Letzte. In einem winzigen Raum flippte ich aus. Ich hatte Platzangst, schrie und polterte an die Tür. Schliesslich wurde mein Hausarzt benachrichtigt. Ich erhielt eine Beruhigungsspritze, und eine halbe Stunde später liessen sie mich gehen. Das brachte mir eine Busse wegen Landfriedensbruch ein. Dieses Erlebnis stösst mir selbst nach zwanzig Jahren noch auf, vor allem weil ich Angst hatte, ich könnte ausgeschafft werden. Ich bin bis heute italienische Staatsangehörige geblieben.
Wie ging es nach der definitiven Schliessung des AJZ weiter?
1982 machte ich beim Houdini mit. Das war eine Kultur- und Aktionsgruppe, die im Kino Walche Konzerte, Theater und Performances veranstaltete. Dann stieg ich bei einem Theaterprojekt ein, dem «Tango Palace». Das war ein Engagement auf Zeit. Ich wusste, ich würde nie Schauspielerin werden, aber ich war am Thema und an der Erfahrung interessiert. Ich hatte Verwandte, die nach Buenos Aires ausgewandert waren und die ich nie kennen gelernt hatte. Das weckte Sehnsüchte in mir, und ich war vom Tango besessen. Beim Stück von J. L. Borges ging es um ein klassisches Macho-Eifersuchtsdrama im Einwanderermilieu von Buenos Aires. Die Premiere der für die damalige Zeit schrägen Inszenierung fand am Theaterspektakel 1983 statt. Wir wurden vom Publikum buchstäblich überrannt und gingen erfolgssicher auf Tournee. So brachten wir den Tango wieder nach Europa, das heisst nach Freiburg i. Br., Hamburg, Köln, Wuppertal, Amsterdam und an den Steirischen Herbst nach Graz. Als wir nach Zürich zurückkamen, hatten wir alle Schulden, weil wir für die grosse Crew von 17 Leuten falsch kalkuliert hatten. In Amsterdam oder Hamburg konntest du eben nicht denselben Eintrittspreis verlangen wie in Zürich. Zu Hause war tote Hose. Die Bewegung war zerstört, das Houdini gab es nicht mehr, und ich hatte keinen Job. Ich fiel in ein Loch.
Wie hast du dich wieder aufgefangen?
Ich erzählte meinem Arzt von meiner Ratlosigkeit, und dass ich nichts mehr mit mir anfangen könne. Er arbeitete an einem Dokumentarfilm über Depressionen und lud mich zur Mitarbeit ein. Das war eine spannende Erfahrung. Ich erinnere mich noch vor allem an einen Satz: Dass für mich die Bewegung ein Ausstieg aus dieser Gesellschaft war, und ich nicht ein zweites Mal aussteigen konnte. Ich hätte in meinem Zustand durchaus in die Drogen abgleiten können.
Hat dich nicht auch das Theaterprojekt enttäuscht?
Für mich war es zu hierarchisch organisiert. Die künstlerische Leitung und die Stars standen zuoberst, dann kamen die Schauspielerinnen und Schauspieler, zuunterst waren die Techniker. Das war nicht meine Welt.
Gab es solche Unterschiede auch im AJZ?
Ich hatte zum Beispiel Hemmungen, mit den Frauen vom Frauenzimmer zusammenzuarbeiten, weil ich mich ihnen unterlegen fühlte. Sie wussten mehr als ich. Ähnlich war es in der Kultur- und Pressegruppe. Es waren eben doch nicht alle gleich, es gab durchaus Unterschiede. Alle, die bereits politische Erfahrungen hatten, waren von Anfang an in einer besseren Stellung. Für mich war alles neu und musste erst noch gelernt werden.
Was machst du heute?
Ich bin Mutter von einem neun- und einem dreizehnjährigen Sohn. Seit 1984 bin ich als städtische Gemeinwesenarbeiterin im Kreis 5 in Zürich beschäftigt, einem Stadtteil mit hohem AusländerInnenanteil und vielen sozialen Problemen.
Von meinen Erfahrungen während der achtziger Bewegung ist mir vor allem das «öppis durezie» geblieben. Ich lernte, wie man zusammen mit Leuten etwas planen und durchführen kann. Nur musste ich mich noch in Geduld üben. Gemeinwesenarbeit reicht vom Aufbau von soziokulturellen Einrichtungen über Kinderarbeit an der Langstrasse bis hin zur Bereitstellung von Räumen für Gruppen aus dem Quartier, seien es tamilische Eltern, die Sprachkurse für ihre Kinder in ihrer Muttersprache machen, oder Kurdinnen und Kurden, die einen Raum für ihre Volkstanzgruppe suchen.
Neu kommt auf die Gemeinwesenarbeit die Stadtentwicklung in Zürich West zu. Wir versuchen mit am Ball zu bleiben, um die Bedürfnisse der Bevölkerung einzubringen. Damit nicht nur Nutzungsziffern und Maximalrenditen die Planung bestimmen, sondern die Leute in den neuen Siedlungen im ehemaligen Industriequartier sich auch wohl fühlen. Es braucht Angebote für Kinder, Jugendliche und Alte. Diese Bedürfnisse müssen in der Planung frühzeitig berücksichtigt werden. Nicht zuerst Wohnsilos hinstellen und dann fünfzehn Jahre später nach Problemlösungen suchen.