Erfolgreiche Sozialdemokratie: Die Wette

Nr. 43 –

Die neue SP-Spitze hatte die schlechteste Presse, die man sich denken kann. Wie hat sie die Wende geschafft? Unterwegs am Wahlwochenende mit Mattea Meyer und Cédric Wermuth.

Mattea Meyer (SP) am Wahlabend in Bern
Rückkehr auf die Erfolgsspur: SP-Kopräsidentin Mattea Meyer am Sonntag in Bern.

Die Stimmung im Dachstock des SP-Sekretariats ist konzentriert, nur ab und zu durchbrechen Fluchwörter oder Jubelrufe die Stille. «Das ist brutal!», kommentiert Kopräsident Cédric Wermuth die Wahlresultate auf dem Land im Aargau. «In Schaffhausen holen wir fast einen Sitz im Ständerat», wirft Kollegin Mattea Meyer ein. Eine welsche Parteisekretärin bringt Kaffee – und positive Ergebnisse aus Neuenburg. Es ist Wahlsonntag, kurz nach 12 Uhr. Die Urnen sind geschlossen, und rasch zeichnet sich ab: Die SVP wird deutlich zulegen. Aber was macht die SP?

Die ersten Ergebnisse lassen nur wenige Rückschlüsse zu. Zwei Stunden lang starren Meyer und Wermuth gebannt in ihre Laptops. Dann reissen sie sich los, eilen die Wendeltreppe hinab auf die Berner Gassen, zum Wahlfest der Partei. Was sie dort sagen werden? «Gerade habe ich noch ein Riesenchaos in meinem Kopf», sagt Meyer. Klar sei nur: «Die nächsten vier Jahre werden bitter. Richtig bitter.»

Am Boden

Für Meyer und Wermuth ist dieser Wahlsonntag auch eine Wette. Darauf, dass es richtig war, als junges Duo nach den Wahlen 2019 mit starken Verlusten für die SP die Parteispitze zu übernehmen. Eine Wette auch, dass es Erfolg bringen wird, die Schweizer Sozialdemokratie, die in den letzten Jahrzehnten im Vergleich mit europäischen Schwesterparteien immer links positioniert war, noch pointierter auszurichten. Es ist eine Wette gegen fast alle Medien, die vor und auch nach der Wahl von Meyer und Wermuth unermüdlich vor einer «Jusofizierung» der Partei warnten. Als würden die neuen Präsident:innen ein bösartiges Virus verbreiten.

Auch einzelne Altvordere der Partei liessen kein gutes Wort an den beiden. Als «inhaltsleer» und «uninspiriert» kritisierte der frühere Parteipräsident Peter Bodenmann die Äusserungen seiner Nachfolger:innen, als «einäugig und einseitig» bezeichnete Altkolumnist Rudolf Strahm den aktuellen SP-Kurs. Als regelmässiger Kritiker tat sich Erich Fehr hervor, der die sogenannte Reformplattform des rechten Parteiflügels präsidiert. Die neue SP-Spitze lasse in ihren Verlautbarungen den Realitätssinn vermissen. «Das ist ein Grund, warum wir gegen die politische Mitte erodieren», meinte Fehr in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» im Sommer letzten Jahres.

Tatsächlich schienen ihm damals die Zahlen recht zu geben: Die SP verlor seit 2019 in allen kantonalen Wahlen, minus 39 Mandate quer durch die Schweiz. Der Ton in den Medien wurde zunehmend verächtlich. Doch dann, in diesem Frühling, bei den Zürcher Wahlen, ereignete sich plötzlich eine Wende: Die SP gewann wieder leicht. Und verlor in den Kantonen in diesem Jahr per saldo keinen Sitz mehr. Plötzlich wurden die Berichte über «Meyer:Wermuth» positiver. Dass das Spitzenduo plötzlich überall so genannt wurde, hatte auch damit zu tun, dass sie das Medium der Stunde für sich entdeckten: den Podcast.

Im Holzstudio

In der Woche vor der Wahl sitzen die beiden in einem Café in der Berner Altstadt. Genau drei Jahre ist es an diesem Dienstag her, dass die beiden das SP-Präsidium übernahmen. Im Gespräch blicken sie auf schwierige Phasen und überraschende Erfolge zurück. Dazu gehört auch die Idee ihres Generalsekretariats für einen Podcast. «Wir waren dagegen», gibt Wermuth zu. «Wir befürchteten, dass ein Zwiegespräch zwischen uns gekünstelt wirkt.» Auch der Aufwand für eine wöchentliche Aufnahme sei ihnen als zu hoch erschienen. Die erste Folge war denn auch ein totaler Reinfall. Sie wurde nie ausgestrahlt.

Trotzdem nahmen «Meyer:Wermuth» seit Oktober letzten Jahres jede Woche im selbstgezimmerten Holzstudio Platz. Mit bemerkenswerten Reaktionen: «Plötzlich wurden wir nicht mehr als die parolenschwingenden Exjusos wahrgenommen», sagt Wermuth. «Viele Leute sagen, dass sie uns wegen des Podcasts viel besser kennen würden. So als ob sie mit uns am Tisch sitzen würden», sagt Meyer. Ihr Hauptanspruch in der Parteileitung liege darin, Orientierung zu bieten. «Genau dazu zwingt uns der Podcast. Wir sprechen auch über Aktualitäten und müssen dazu eine Haltung entwickeln. Wir legen dabei auch offen, wenn es uns schwerfällt, die richtigen Worte zu finden – wie nach den Terrorangriffen der Hamas.»

Der Podcast dient auch als Materialfundus für die Parteiwerbung: Ausschnitte werden von den Campaigner:innen der Partei die ganze Woche auf allen Kanälen ausgespielt. Wobei Wermuth im Zusammenhang mit der Werbung betonen möchte: «Unser Podcast soll kein Propagandainstrument sein. Wir wollen die Medien nicht ersetzen, sondern ergänzen.»

Nicht nur handwerklich, auch inhaltlich lief es bei der SP im Verlauf des Jahres immer besser. Mit der steigenden Teuerung wurden die sozialen Themen wichtiger: die Krankenkassenprämien, die Mieten, die Löhne. Dann versenkte sich im Frühling auch noch das Paradeplatz-Flaggschiff Credit Suisse selbst. Ein Vorgang, mit dem sich Wermuth und Meyer auskennen: Im Protest gegen die Exzesse in der Finanzkrise und die UBS-Staatsrettung waren beide politisch grossgeworden, hatten als Jusos die «1:12»-Initiative für eine fairere Lohnverteilung lanciert.

Müssten sie bei dieser Themenlage nicht mehr zulegen, als es die Umfragen versprechen? Haben sie im ersten Halbjahr des Wahlkampfes der SVP mit deren Alarmismus gegen die Zuwanderung nicht sträflich das Feld überlassen? Meyer sieht das nicht so: «Wir haben schon im letzten Sommer ein Kaufkraftpaket geschnürt, das eine Entlastung bei den Krankenkassenprämien fordert. Wegen der Mitte-Partei sind wir bekanntlich im Ständerat gescheitert.»

Aber dieses Wort «Kaufkraft», wer benutzt das schon im Aktivwortschatz? «Wir brauchten einen Begriff, um unsere sozialen Anliegen zu bündeln. Wir hätten auch Klassenkampf nehmen können statt Kaufkraft. Es hätte vermutlich weniger gut funktioniert», meint Wermuth. Trotzdem: Appelliert der Begriff nicht ans eigene Portemonnaie statt an gesellschaftliche Solidarität, postuliert er nicht ein ungebrochenes, unökologisches Wachstum? «Eine soziale Schweiz ist die zwingende Voraussetzung für mehr Klimaschutz», entgegnet Wermuth. «Wer von finanzieller Not geplagt ist, dem oder der fällt es viel schwerer, die ökologische Wende mitzutragen.»

Unter Männern

Am Wahlsonntag ist es 16 Uhr geworden. Im Luxushotel Bellevue gleich neben dem Bundeshaus treffen sich die Parteipräsident:innen zum ersten Mediengespräch. Bei diesen Runden in den nächsten Stunden und Tagen wird es Meyer sein, die für die SP spricht. Sie ist dabei stets die einzige Frau neben fünf Männern – ein Ausdruck für die reale Ungleichberechtigung in der Schweiz im Jahr 2023. Wie hält sie das eigentlich aus? «Grundsätzlich begegnet man mir respektvoll. Aber es kostet mich Energie, weil ich gleich dreifach in der Minderheit bin: als Frau, als Jüngste, als Linke.»

Im ersten Schlagabtausch ist sie besonders als Linke gefordert. Thierry Burkart, der Präsident der FDP, hat mit seiner Anbiederung an die SVP zwar Stimmen an die Rechtspopulist:innen verloren. Dennoch spricht er sofort wieder von einem «Asylchaos», fordert als Reaktion auf den Sieg der SVP eine härtere Gangart bei Ausschaffungen. Der Ton ist gesetzt: Der Wahlerfolg von Rechtsaussen wird sich insbesondere auf Menschen ohne Schweizer Pass auswirken.

Im Verlauf des Abends lösen die definitiven Resultate die Hochrechnungen ab. Dabei zeigt sich immer deutlicher: Die SP-Spitze hat ihre Wette gewonnen. Sie legt mehr als einen Prozentpunkt und zwei Sitze zu. Die Grünen verlieren rund vier Prozentpunkte, doch nur fünf Sitze. Die Verluste der beiden Parteien betragen insgesamt drei Mandate. Einmal mehr verhalten sich die beiden Parteien wie kommunizierende Röhren in der Physik, sie nehmen sich gegenseitig die Wähler:innenanteile ab.

Angesichts der leichten Verluste wird die Zusammenarbeit mit der Mitte-Partei nun noch wichtiger. Aber sie bleibt absehbar schwierig, meint Wermuth: «Teile der SVP sind heute offen rechtsextrem und arbeiten mit Neonazis zusammen. Doch für viele Bürgerliche ist eine Zusammenarbeit mit der SP immer noch undenkbar. Wir bleiben für sie das rote Tuch.» Meyer ergänzt: «Die Mitte bewegt sich auf einem Schlingerkurs. Wir werden sicher thematische Bündnisse suchen. In der Sozial- und Klimapolitik sehe ich dafür die grössten Chancen.»

Nach den Livesendungen ist das Bundeshaus schnell gespenstisch leer. Eine Leere, die darauf hinweist, dass die Wahlen in der Schweiz in den Kantonen stattfinden. Auch Meyer und Wermuth sind jetzt getrennt unterwegs, er fährt in den Aargau, sie zurück nach Zürich. Hier konnte die SP stark zulegen, die Partei feiert bis in die Nacht in der Olé-Olé-Bar. Vor dem Lokal steht auch Parteiikone Jacqueline Badran und freut sich, dass sie so viele Stimmen erhalten hat wie sonst nie jemand in der Schweiz. «Mehr als letztes Mal Albert Rösti! Und die SVP kann für einmal nicht sagen, dass die Ausländer:innen daran schuld sind. Denen verweigert sie ja das Wahlrecht.»

Drinnen trinkt Mattea Meyer ein Bier und klopft auf die Bar. «17,96 Prozent! Eine runde 18 wäre psychologisch noch schöner gewesen.» Immerhin: Die SP hat ihr Tief überwunden. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger. Am Mittwoch korrigiert das Bundesamt für Statistik die Wahlresultate und bestätigt, dass «Meyer:Wermuth» die Wette auch psychologisch gewonnen haben. Das amtliche Endergebnis für die SP: 18,3 Prozent. Mit 28,1 Prozent sind SP und Grüne zusammen sogar stärker als die SVP.