Kehraus: Balsam und Barrikaden

Nr. 51 –

Sogar dieses Jahr hatte auch sein Gutes. Die WOZ-Kulturredaktion hat daraus Trost und Stimulation für die schwierige Zeit zwischen den Jahren gesammelt.

Skulpturen aus Pflastersteien auf einer besetzten Strasse in Hongkong im Dezember 2014
«Protestarchitektur»: Besetzte Strasse in Hongkong im Dezember 2014. Foto: © Vicky Chan

Licht ist einfach nur Licht

Die Offenbarung kommt ihr in der tiefsten Verzweiflung: «Licht war einfach nur Licht, es war nicht beseelt von Hoffnung.» Man sieht schon: «Die weite Wildnis», der neue Roman von Lauren Groff, ist alles andere als ein Weihnachtsmärchen. Kein Trost und keine Erlösung in dieser gottlosen Passionsgeschichte, nur der unbändige Lebenswille einer jungen Frau im 17. Jahrhundert. Eine Dienstmagd, fast noch ein Mädchen, flieht aus ihrer befestigten Siedlung, wo Krankheit und Barbarei wüten, und schlägt sich fortan ganz allein durch, in der Wildnis im Winter in Amerika. Die Natur ist kein Ort für Andacht in diesem existenziellen Western. Und weiter, immer weiter.

Wer danach Balsam für die geschundene Seele braucht: Zach Condon alias Beirut hat sich in Norwegen in den Klang einer Kirchenorgel verliebt. Das Resultat ist Adventsmusik für Ungläubige; unter dem nordischen Design tänzeln gelegentlich karibische Beats aus der Maschine. «I’m empty, I am full», singt Condon dazu, bei seinen Texten kann man getrost auf Durchzug stellen. «Hadsel» heisst das Album, es ist das heimelige Chalet für alle, die sich keins leisten können: Tut spartanisch, aber alles mit Bodenheizung.  

Lauren Groff: «Die weite Wildnis». Roman. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Claassen Verlag. Berlin 2023. 35 Franken.

Beirut: «Hadsel». Pompeii Records. 2023.

Ein Kuss nur …

Endlich! Nach sechs Staffeln und neunzehn Folgen passierts: Sie küssen sich – vor Antonio Canovas «Amor und Psyche» im Louvre. Kitschig? Nicht im Fall von «L’Art du crime», der französischen Krimiserie, die Ende 2017 mit der verschollen geglaubten «nackten Mona Lisa» von Leonardo da Vinci begann. Seither ermitteln sie zusammen: Antoine Verlay (Nicolas Gob), hitzköpfig, hypersensibel und von der Kripo in die Abteilung zur Bekämpfung illegalen Kunsthandels strafversetzt, und die Kunsthistorikerin Florence Chassagne (Éléonore Gosset-Bernheim), so schusselig im Auftreten wie schrullig in ihren imaginierten Gesprächen mit toten Künstler:innen. So spannend die Morde in der Kunstwelt sind, die «Madame Chassagne» und «Commissaire Verlay» – sie siezen sich auch nach sechs Staffeln noch – zusammenführen: Zum Fingernagelkauen ist vor allem die knisternde Nichtbeziehungskiste zwischen dem von Kunst Verstörten und der von Kunst Besessenen. Prompt rudert sie nach dem Kuss zurück. Wir hoffen auf Staffel 7, auf France 2 eben gestartet.

«L’Art du crime». Staffeln 1–6 auf DVD, Staffel 7 auf France 2.

Orientierung finden

Zum Beispiel am 10. Oktober: Drei Tage nach den Massakern der islamistischen Hamas widmete sich die Sendung «Der Tag» im Hessischen Rundfunk dem Thema «Ende offen. Israel im Krieg um die Existenz». Die Sendung mit Hintergrundinfos und Interviews – unter anderem mit Meron Mendel, dem Direktor der Bildungsstätte Anne Frank – war wie immer: unaufgeregt, substanziell und informativ. Seit 1996 widmet sich «Der Tag» jeweils eine Stunde lang einem aktuellen Thema. Seien es die NSU-Morde, KI, LSD oder die Pisa-Studie: Stets sucht das Format verschiedene Zugänge zum Thema, verzichtet dabei aber auf das platte Pro-und-kontra-Konzept einer «Arena». «Der Tag» setzt eigene Akzente – und bietet in Zeiten wie diesen Einordnungs- und Orientierungshilfe.

«Der Tag» auf www.hr-inforadio.de.

Spass mit Karol G

Wer bei Rosalía heimlich von kultureller Aneignung hüstelt, hält sich besser ans Original: Karol G, Reggaetonera aus Kolumbien, ist dreckiger, gefährlicher und hat auch keine Berührungsängste vor Musikstilen, die in Europa nur Kopfschütteln auslösen, wie mexikanische Corridos oder peruanische Chicha. Und falls jemand aus dem Umfeld auf den latenten Sexismus hinweist, wenn diese Hymnen auf schöne Körper, verliebte Menschen und ungesunde Beziehungsmuster aus den Boxen dröhnen: Keine Angst, bei Reggaeton klingt alles irgendwie unanständig, weil dieser Beat direkt in die Hüften geht.

Sicher, Karol G macht einige Logiken der hypersexualisierten Musikindustrie mit. Sie nennt sich aber auch «bichota» (die weibliche Form von «bichote», dem Drogenkartellboss in Puerto Rico), gibt Konzerte in Frauengefängnissen und ist besonders beliebt in der LGBTA+-Community. Im grossen Ganzen bestimmt sie also wohl selbst, wie viel Sex hier von wem vermarktet wird.

Karol G: «Mañana será bonito» und «Mañana será bonito (Bichota Season)». Interscope Records. 2023. Live: 8. Juni 2024 in Zürich, Hallenstadion.

Die Welt besetzen!

Wirklich übersichtlich ist es nicht, wie hier in kleinster Schrift eine Fülle an Hinweisen zusammengepackt wird: Dieses Lexikon zu «Protestarchitektur» ist nur vermeintlich ordentlich, aber wild wuchernd und gerade deswegen so gut. Die schiere Menge an renitenten Ideen und Praktiken, wie man in den Raum eingreifen kann, macht Hoffnung – auch wenn vieles, was hier dokumentiert ist, nur auf Zeit existierte, manches gewaltsam zerstört wurde. Aber, so zeigt sich, der Protest ist trotz allem nie unterzukriegen. Zu widerstehen mag oft nicht einfach sein, möglich aber ist es allemal, wie dieses schöne Buch beweist. Inspiration liefern Beispiele aus der ganzen Welt seit 1830: Paris, Berlin, Wien, Kairo, Hongkong, Istanbul, Hambacher Forst, Notre-Dames-des-Landes, Ouagadougou, São Paulo und viele, viele mehr. Eine Barrikade ist schnell gebaut, ein Protestcamp oder ein Hüttendorf bald einmal auch, und Sichhinsetzen steht sowieso allen zur Verfügung. Im neuen Jahr also: Squat the world!  

Oliver Elser u. a. (Hrsg.): «Protestarchitektur. Barrikaden, Camps, raumgreifende Praktiken 1830–2023». Park Books. Zürich 2023. 19 Franken.

Ausstellung: «Protest/Architektur. Barrikaden, Camps, Sekundenkleber», bis 14. Januar 2024 im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt a. M.

Himmlisches Flirren

Wie der Himmel im christlichen Sinn soll diese Musik klingen – ja, auch zum sechsten Album der New Yorker Band Liturgy gibts einen unbescheidenen Überbau. Etwas verschroben, aber im Kern sehr einleuchtend: Liturgy nahmen einst kalten, nihilistischen Black Metal und machten daraus Musik, die gerade in ihrer flirrenden Intensität und Raserei ergreifend euphorisch klingt. «93 696» verdichtet nun in 82 grandiosen Minuten alles, was Liturgy je ausprobiert haben: gleissende Gitarrenwände und verschobene Grooves, aufreibende Spannung und triumphale Brüche, Flöten und Engelschöre, Streicher und Glockenspiele, Glitches und Samples. Komponistin und Schreierin Haela Hunt-Hendrix hat sich 2020 als trans geoutet, nun will sie den Metal feminisieren. So klingt das.  

Liturgy: «93 696». Thrill Jockey. 2023.

Verrückt und unvergesslich

Wenn alles perfekt sein soll und gerade deswegen in ein heilloses Desaster kippt: Passiert oft im Zusammenhang mit Familien und Festtagen. Die sechste Folge der zweiten Staffel von «The Bear», bereits legendäre Restaurantserie aus Chicago, lotet das emotionale Feld mit einem chaotischen Weihnachtsessen aus. Im Zentrum: Jamie Lee Curtis als mental instabile Übermutter, die bereits zu Beginn des Abends schwer betrunken ist. Sie kocht einen Mehrgänger, umzingelt von klingelnden Timern, bei denen niemand mehr weiss, für welches Gericht sie gestellt wurden. Im Esszimmer trinkt, hungert und zerstreitet sich die Familie, bestehend aus einem harten Kern von Blutsverwandten, ein paar Angeheirateten, falschen Onkeln und Cousins. Alles steuert mit wütender Präzision auf ein zwischenmenschliches Fiasko zu. «Fishes» ist kaum auszuhalten, kann problemlos für sich allein stehen und ist alles in allem eine der besten Einzelfolgen einer Serie überhaupt.

«The Bear», Staffel 2, «Fishes». Deutsch auf Disney+.