8. Die Grüninger-Protokolle Geschichte und Erinnerung

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Im Bundesrat wird um jedes Wort gerungen, als das Gremium im Juni 1994 über die Rehabilitierung des St. Galler Flüchtlingshelfers Paul Grüninger diskutiert. Das zeigen die Protokolle, die von der Forschungsstelle Dodis nach einer dreissigjährigen Sperrfrist Anfang Jahr veröffentlicht wurden. Ruth Dreifuss pocht nicht nur darauf, dass Grüninger rehabilitiert wird und der Bundesrat Respekt für dessen selbstlosen Einsatz bekundet. Sie will auch, dass die antisemitische Flüchtlingspolitik der offiziellen Schweiz vor und während des Zweiten Weltkriegs in der nötigen Klarheit benannt wird. «Madame Dreifuss», heisst es in den Dokumenten auf Französisch, «schlägt vor, die damaligen Massnahmen als diskriminierend und rassistisch zu bezeichnen.» Gemeint ist insbesondere der sogenannte Judenstempel in den Pässen, dessen Einführung die Schweiz in NS-Deutschland anregte. «Zweitens müsse betont werden», so Dreifuss gemäss Protokoll, «dass es die damalige Rechtslage der Schweiz ermöglicht hätte, eine andere Politik zu verfolgen.»

Der St. Galler Polizeihauptmann Grüninger hat vor dem Zweiten Weltkrieg mehreren Hundert jüdischen und anderen Flüchtenden das Leben gerettet, indem er sie auch dann noch in die Schweiz liess, als der Bund die Grenzen im Sommer 1938 bereits geschlossen hatte. Um die Menschen in Not zu schützen, liess er ihre Einreise vordatieren. Nachdem der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei wegen der ungewöhnlich hohen ­St. Galler Flüchtlingszahlen eine Untersuchung veranlasst hatte, wurde Grüninger vom Dienst suspendiert, entlassen, strafrechtlich verfolgt und verurteilt.

Ruth Dreifuss ist von der Geschichte direkt betroffen. Ihr Vater leitete damals die Israelitische Flüchtlingshilfe in St. Gallen, die sich um die Aufnahme der Geflüchteten zu kümmern hatte. Weil die Schweizer Jüdinnen und Juden selbst dafür aufkommen mussten, bedeutete das für sie eine starke finanzielle Belastung. Sidney Dreifuss hat auch selbst Vordatierungen vorgenommen – zumindest gibt er bei der Einvernahme durch den Untersuchungsrichter die Fälschung von Flüchtlingsakten zu. Die Verantwortung schiebt Dreifuss aber auf Grüninger, er habe bloss auf dessen Anweisungen gehandelt. Ihm selbst sei bei der Vordatierung der Einreise «einfach nicht wohl» gewesen, er habe damit «so wenig wie möglich» zu tun haben wollen, heisst es dazu in «Grüningers Fall» von Stefan Keller.

Das 1993 veröffentlichte Buch des ehemaligen WOZ-Journalisten bildet so etwas wie das Fanal für die Vergangenheitsdebatte, die die Schweiz in den neunziger Jahren einholt. In diesem turbulenten Jahrzehnt der Neuorientierung muss sich das Land auch seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg stellen. 1996 lanciert der World Jewish Congress in den USA eine Debatte über die Tätigkeit der Schweizer Banken im Zweiten Weltkrieg. Dadurch wächst der Druck auf die Schweiz, den Bestand sogenannt nachrichtenloser Vermögen jüdischer Holocaustopfer auf Schweizer Konten aufzuklären.

Zuerst aber diskutiert der Bundesrat über die Rehabilitierung von Grüninger – und ringt sich auf Antrag von Dreifuss erstmals durch, die Massnahmen gegen die Jüdinnen und Juden als «unhaltbare rassistische Diskriminierung» zu bezeichnen. Wobei er die Verurteilung gleich selbst relativiert: Die Entscheide seien «bloss aus heutiger Sicht» rassistisch zu werten. Man müsse auch die damalige Lage und den Druck aus Deutschland berücksichtigen, findet die Mehrheit gemäss dem Protokoll.

«Die Diskussionen im Bundesrat waren schon heftig. Ich muss sagen, ich war über die Geschichtskenntnisse meiner Kollegen ziemlich erschüttert», sagt Ruth Dreifuss. «Sie glaubten viel zu lange, die Schweiz habe im Zweiten Weltkrieg eine ehrenhafte Rolle gespielt, sich heldenhaft an der Grenze verteidigt.» Allzu lange habe die Regierung angesichts der Kritik aus den USA den Ernst der Lage nicht erkannt und gemeint, die Banken könnten die Vorwürfe alleine klären. Schliesslich setzt der Bund doch noch eine Taskforce ein, lobbyiert in Washington, am Ende verständigen sich die Banken und die Kläger:innen auf eine Wiedergutmachung in der Höhe von 1,25 Milliarden US-Dollar. «Die Vergangenheitsaufarbeitung hat mich deutlich mehr interessiert als dieses Lobbying», sagt Dreifuss.

Die Gelegenheit dazu bietet sich, als SP-Nationalrat Paul Rechsteiner 1996 die Idee einer unabhängigen Untersuchungskommission lanciert. «Es war eine verrückte, labile Zeit», erinnert er sich. «In der medialen und der bürgerlichen Sichtweise dominierte der Gegensatz zwischen den USA und der Schweiz. Aber plötzlich gab es im Parlament die Möglichkeit, den Anspruch durchzusetzen, dass es doch um unsere eigene Geschichte geht – und wir sie kennen müssen.» Noch im gleichen Jahr wird die Einrichtung der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) beschlossen.

Ruth Dreifuss nimmt auf die Zusammensetzung des Gremiums durchaus Einfluss: Als Urs Altermatt das Präsidium übernehmen soll, legt sie ein Veto ein, weil der Historiker in seiner Forschung zum Katholizismus den Antisemitismus ausgespart hatte. Stattdessen wird der Lausanner Sozial- und Wirtschaftshistoriker Jean-François Bergier Präsident der – später oft nach ihm benannten – Kommission. Dreifuss prägt indes auch die internationale Ausrichtung der Forschung mit, sie schlägt profilierte Historiker:innen aus der Schweiz wie aus dem Ausland vor. «Wir haben keinen direkten Einfluss von Dreifuss gespürt», sagt Jakob Tanner, der in der UEK mitarbeitete. «Aber für uns war es wichtig zu wissen, dass jemand in der Regierung ist, dem diese Aufarbeitung ein zentrales Anliegen ist. So konnten wir sie auch nach der Einigung mit den Banken durchziehen, als sie längst nicht mehr alle für nötig hielten.»

Wie angespannt für Jüdinnen und Juden jene Jahre waren, beschreibt die Zürcher Psychoanalytikerin Madeleine Dreyfus, die damals ein Manifest gegen Antisemitismus mitlancierte (sie ist nicht mit Ruth Dreifuss verwandt). Anlass dafür war ein skandalös antisemitisches Interview: Auschwitz liege nicht in der Schweiz, sagte Ende 1996 der FDP-Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz. Der Tenor seiner Aussagen: Wir lassen uns von den jüdischen Organisationen nicht erpressen, die übrigens selber am Antisemitismus schuld seien. Und überhaupt: Lasst uns in Ruhe mit all dem, schliesslich haben ja nicht wir die Juden umgebracht.

«Es war eine Hochzeit des Antisemitismus. Die Stimmung in den Medien war feindselig, von Nestbeschmutzung und geldgierigen Juden war die Rede. An meinem Briefkasten wurde mein Name durchgestrichen: ‹So eine wollen wir hier nicht›», erinnert sich Madeleine Dreyfus. Noch exponierter war ihre Namensvetterin im Bundesrat. «Die Situation war belastend, weil ich zu Recht oder Unrecht den Verdacht hatte, dass meine Kollegen an meiner vollen Loyalität zur Schweiz zweifelten.» So schrieb sie einmal mehr einen Brief, diesmal an die anderen Bundesratsmitglieder. «Darin drückte ich klar aus, dass der Verdacht auf doppelte Loyalität nicht angebracht, von mir aber auch nicht annehmbar sei», sagt sie heute.

Diesen Brief erwähnt Dreifuss im Gespräch mit der WOZ erstmals öffentlich. Selbst enge Weggefährt:innen wussten nichts davon. Dabei zeigt er, wie extrem, ja eigentlich unaushaltbar die Situation für Ruth Dreifuss damals war: Ausgerechnet die erste Jüdin im Bundesrat, aufgewachsen während der NS-Verfolgung, sah sich gezwungen, die Kollegen mit dem diskriminierenden Verdacht der doppelten Loyalität zu konfrontieren, den sie womöglich hegten. Darauf habe betretenes Schweigen geherrscht. «Ausser Ogi hat mir keiner der Kollegen auf den Brief geantwortet», sagt Dreifuss. Gewirkt habe er trotzdem – wie nach einem Gewitter sei die Anspannung weg gewesen.

Ruth und ihr Bruder Jean Jacques, sagt Grüninger-Historiker Stefan Keller, seien der Geschichte um den Polizeikommandanten stets mit grosser Neugier und Offenheit begegnet – und hätten jene Haltung an den Tag gelegt, die man seitens der Behörden schmerzlich vermisst habe. «Sie wollten immer alles genau wissen, auch zur Rolle des eigenen Vaters bei der Untersuchung gegen Grüninger.» So packte Keller einmal alle seine Akten in ein Auto und fuhr in die Weinberge nach Tartegnin. Nachdem sie alles zusammen durchgesehen hätten, habe ihm Jean Jacques Dreifuss gesagt: «Ich habe mein Bild meines Vaters – aber ich weiss jetzt, wie du zu deinem kommst.» Auch für Ruth Dreifuss bleibt das Bild positiv: «Es gab für ihn damals in der Einvernahme ja keinen Grund mehr, den Helden zu spielen. Das Ganze war aufgeflogen. Die Hilfe für die Geflüchteten bleibt ein Grund, auf ihn stolz zu sein. Wie auch auf die Ehrung von Paul Grüninger.»